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'Wir sind nicht naiv'

4. Dezember 2009

Warum alle Atomwaffen abgeschafft gehören und sich Europas Schicksal jetzt entscheidet: Werner Hoyer, erfahrene rechte Hand des neuen Außenministers Guido Westerwelle, über Grundlagen und Ziele deutscher Außenpolitik.

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Porträt Werner Hoyer
Werner Hoyer, FDP, Staatsminister im Auswärtigen Amt, BerlinBild: picture-alliance/dpa

DW-WORLD.DE: Sie waren bis 1998, in der Regierung Kohl, schon einmal Staatsminister im Auswärtigen Amt. Ist noch etwas wie damals, oder hat sich die Weltpolitik völlig verändert?

Ich erlebe, zum Beispiel im Außenministerrat in Brüssel, eine Mischung aus Déjà-Vu und "alles hat sich verändert". Zum Teil schlägt man sich mit den gleichen Problemen herum und fragt sich, ob wir in den letzten elf Jahren überhaupt keinen Fortschritt gemacht haben. Auf der anderen Seite sieht man einen Quantensprung der Europäischen Union. Nicht nur, weil jetzt 27 Mitgliedsstaaten um den Tisch versammelt sind und nicht mehr 15, sondern auch weil die Positionierung der EU in der Globalisierung heute ganz anders ist, als man sich damals hätte vorstellen können. Insgesamt kommt man zu dem Schluss, dass wir viele Aufgaben, die wir schon in den 90er Jahren hätten anpacken müssen, bis heute nicht erledigt haben. Die neue Weltordnung, von der nach dem Fall der Berliner Mauer so viel die Rede war, ist bis heute nicht zustande gekommen.

Wir haben ja in den letzten Jahren eher eine Militarisierung der Außenpolitik erlebt. Sehen Sie denn die Chance, auch wieder zu einer Demilitarisierung zu kommen?

Auf dem Bild ist ein Pazer zu sehen (dpa)
"Der Einsatz von Militär darf nie zum Politikersatz werden"Bild: picture-alliance / dpa

Ich mache mir diese Formulierung von der Militarisierung der Außenpolitik nicht zu eigen. Aber ich sehe natürlich, dass wir heute mit der militärischen Dimension von Sicherheitspolitik lockerer umgehen als noch vor zehn Jahren. 1993 haben wir noch mit der Frage vor dem Bundesverfassungsgericht gestanden, ob die Rechtsgrundlage für Aufklärungsflüge über das Adria gegeben ist. Jetzt haben wir gerade im Bundestag innerhalb von fünf Wochen über die Verlängerung von fünf Auslandseinsätzen beschlossen. Militarisierung der Außenpolitik würde ich das aber nicht nennen, solange man sich immer klar macht, dass wir mit solchen Einsätzen der Bundeswehr bestenfalls Zeit kaufen können, um eine politische Lösung anzusteuern. Der Einsatz von Militär darf nie zum Politikersatz werden. Manchmal besteht aber die Gefahr, wenn die Soldatinnen und Soldaten vor Ort erst mal das ganz akute Problem entschärft haben, dass dann der Elan für politische Lösungen erlahmt. Das darf nicht sein.

Präsident Obama hat nun die Abschaffung aller Atomwaffen zum Ziel erklärt. Halten Sie das für realistisch?

Ich glaube, das ist eine der wichtigsten Initiativen dieses Jahrzehnts. Wir haben in Zeiten des Kalten Krieges, so hart das jetzt klingt, von Nuklearwaffen profitiert. Sie haben, solange sich verfeindete, aber rational handelnde Staaten gegenüberstanden, letztlich dafür gesorgt, dass sich alle vernünftig und verantwortlich verhalten haben. Wir haben es aber nicht geschafft, uns nach dem Ende des Kalten Krieges Themen wie der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien hinreichend zuzuwenden. Deshalb sind dieselben Waffen, die im Kalten Krieg noch als Problemlöser dastehen konnten, heutzutage eher Teil des Problems, und zwar eines gigantischen Problems. Iran ist da nur ein Stichwort. Es gibt viele weitere, etwa die Entwicklung in Südasien. Dazu kann einem einiges einfallen, das einem die Haare grau werden lässt.

Präsident Obama hat uns gleich ein ganz großes Ziel vor Augen geführt. Aber ich glaube, nur wenn man sich ein ganz ambitioniertes Ziel setzt, wird man auch die Kraft aufbringen, einigermaßen große Schritte in diese Richtung zu machen. Wir sind alle nicht naiv, die wir uns diesem Ziel verschrieben haben. Es sind schwierigste Bedingungen zu erfüllen, über die wir in Verhandlungen Konsens erzielen müssen. Die Verifikation, ob die Vereinbarungen auch eingehalten werden, wird Eingriffe in nationale Souveränitätsrechte erfordern, wie wir sie bisher bei allen Verifikationsbemühungen zum Beispiel im konventionellen Bereich nie gekannt haben. Da werden wir Quantensprünge der Rechtsentwicklung sehen.

Vor gerade mal gut einem Jahr gab es einen Krieg in Europa, der schon wieder fast in Vergessenheit geraten ist: den zwischen Georgien und Russland um Süd-Ossetien. Dieser Krieg hat, ganz unabhängig von der Schuldfrage, bei den Nachbarn Russlands die Sorge vor einer neuen russischen Hegemonialpolitik verstärkt. Ist diese Sorge berechtigt?

Vladimir Putin und Dmitry Medvedev
"Wir dürfen uns nicht in eine Anti-Russland-Hysterie hineintreiben lassen"Bild: AP

Es ist zumindest die Sorge berechtigt, dass wir gegenüber Russland wie auch den Ländern, die bis vor wenigen Jahren im sowjetischen Machtbereich oder sogar Teil der Sowjetunion waren, nicht hinreichend Psychologie zur Geltung gebracht haben. Es ist ganz entscheidend, dass ein großes Land wie Russland ein Problem des Selbstwertgefühls hat und sich vielleicht in seiner historischen Rolle, die es 1989/90 gespielt hat, nicht hinreichend gewürdigt fühlt, ebenso wie zum Beispiel die neuen EU-Mitglieder in Mittel- und Südost-Europa sich mit ihren Traumata bezüglich Russland nicht hinreichend gewürdigt gefühlt haben oder vielleicht auch noch fühlen. Das muss man beides aufbrechen.

Wir dürfen uns nicht in eine Anti-Russland-Hysterie hineintreiben lassen, müssen aber auf der anderen Seite unseren russischen Freunden auch ganz klar sagen, was geht und was nicht geht. Und in Hinblick auf Georgien, Süd-Ossetien und Abchasien muss man sagen, dass die Russen durchaus einen Punkt gehabt haben, dass sie aber völlig überreagiert haben in einer Art und Weise, die wir mit unseren Rechtsvorstellungen nicht in Übereinstimmung bringen können.

Wo würden Sie denn den Platz Russlands in einer europäischen Sicherheitsarchitektur sehen, oder zugespitzt gefragt: Ist Russland ein europäisches Land?

Russland ist vielleicht mehr ein europäisches Land, als man denkt, wenn man sich nur vor die Landkarte stellt und diese gigantische asiatische Landmasse sieht, die auch zu Russland gehört. Russland hat nicht nur eine sehr starke europäische Bevölkerung und eine europäische Kultur, es hat auch gerade in seinem europäischen Bereich enorme Probleme. Deswegen ist Russland gut beraten, sich immer mehr als Teil Europas zu verstehen und sich dort als ein ganz wichtiges Land konstruktiv einzubringen in die Strukturen, mit denen wir einmal die europäische Sicherheitsarchitektur angefangen haben.

Russland geht nach meiner Ansicht etwas leichtfertig mit dem um, was wir OSZE nennen uns was über den Helsinki-Prozess überhaupt die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass wir heute die Teilung Europas für überwunden erklären können. Man muss sehen, was es für Russland bedeutet, dass Länder, die früher zum sowjetischen Machtbereich gehört haben, Teil der NATO oder der Europäischen Union geworden sind. Ich bin aber der Auffassung, dass die Russen einen Fehler machen würden, wenn sie ihre Vorstellungen von europäischer Sicherheitsarchitektur an den gegebenen Strukturen, insbesondere der OSZE, vorbei entwickeln würden.

Bei unseren östlichen Nachbarn scheint es auch Deutschland gegenüber noch ein gewisses Misstrauen zu geben. Wenn man derzeit manche Empfindlichkeit im Zusammenhang mit der Person Erika Steinbach sieht, scheinen wir doch von einer Normalität noch weit entfernt zu sein. Muss man auf diese Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen, oder muss man unter Freunden auch mal Gegensätze aushalten?

Deutschlandfahne und Europafahne (picture alliance)
"Wir sind ein Land mit einer Wirtschaftskraft, die in Europa ihresgleichen sucht"Bild: picture-alliance / Burkhard Juet

Wir sollten uns da nicht verrückt machen. Wir sind ein Land im Herzen Europas, das mehr Nachbarn hat als jedes andere, mit einer Bevölkerung von über 80 Millionen und einer Wirtschaftskraft, die in Europa ihresgleichen sucht. Das schafft bei den anderen nicht immer nur Freude. Und im Übrigen haben wir eine Geschichte, an der wir nicht vorbei können. Die Dinge entwickeln sich über die Zeit. Deutschland ist ein guter Nachbar geworden, ein verlässlicher Partner im Bündnis. Die Sorge, dass Deutschland vielleicht seine Bündnisverpflichtungen nicht ernst nimmt, sollten wir unseren Partnern in Mittel- und Südosteuropa nehmen. Es ist kein Zufall, dass die Bundesluftwaffe über den baltischen Staaten die Luftraumüberwachung betreibt und sich um die Sicherheit dieser Staaten sehr konkret sorgt.

Würden Sie dann sagen, wenn eine Person gegenüber einem dieser Länder für Irritationen sorgt, muss diese Person zurückstecken?

Das ist ein Punkt, an den man mit Würde und Verstand zugleich herangehen muss. Ich bin selbstverständlich der Auffassung, dass der Außenminister richtig liegt mit seiner vorsichtigen Behandlung des Themas "Zentrum gegen Vertreibungen". Wir wollen damit einen positiven Beitrag leisten gegenüber unseren Nachbarn, gerade denjenigen, die früher unter Deutschland gelitten haben. Deshalb muss man da ganz, ganz behutsam herangehen. Auf der anderen Seite bin ich der Erste, der auch in Polen ganz offen sagt, dass wir für eine Dämonisierung einer geschätzten Kollegin des Deutschen Bundestages nun auch kein Verständnis haben. Das ist teilweise ein Umgang, den wir nicht akzeptieren, auch wenn sich das im Wesentlichen in den polnischen Medien abspielt und nicht jede Entgleisung dort gleich der polnischen Regierung angelastet werden sollte.

Der Lissabon-Vertrag ist in Kraft, wird es nun mit Europa noch mal einen kräftigen Schritt voran gehen?

Ich bin struktureller Optimist, und deswegen sage ich Ja. Ich habe den Amsterdamer Vertrag von 1997 selbst mit ausgehandelt, und wir waren uns damals einig, dass wir da noch erheblich draufsatteln müssen. Was dann zwischendurch passiert ist, war nicht der große Wurf. Jetzt haben wir eine neue Vertragsgrundlage, daraus müssen wir nun das Beste machen. Ich hätte mir die Europäische Verfassung gewünscht, ich wäre auch bereit gewesen, bei der Übertragung von Souveränitätsrechten weiter zu gehen. Aber wir haben jetzt ein demokratischeres und - wenn wir wollen - auch handlungsfähigeres Europa. Es kommt jetzt entscheidend darauf an, was die Personen in den neugeschaffenen Positionen aus diesen Funktionen machen. Wie sie jetzt als erste diese Ämter prägen, wird mit darüber entscheiden, ob wir unsere Selbstbehauptung in der Globalisierung erfolgreich organisiert bekommen oder nicht. Wenn nicht, dann wird Europa in 20, 30 Jahren im Weltmaßstab weder politisch noch wirtschaftlich noch eine Rolle spielen können, und das wäre fatal.

Interview: Peter Stützle

Redaktion: Michael Borgers