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Wie die gute Tat entstand

Frederike Müller6. August 2013

Vor über 200 Jahren entstand das organisierte Ehrenamt in Deutschland. Ein Blick auf die Geschichte zeigt: Ehrenamt entwickelte sich im Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Zwang.

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Ein Pfleger hält in einem Alten-und Pflegeheim der Diakonie die Hand einer alten Frau. Foto: Oliver Berg
Bild: picture-alliance/dpa

Die einen arbeiten als ehrenamtliche Sanitäter in Hilfsorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz. Die anderen trainieren die Fußballjugend beim Sportverein um die Ecke. Ehrenamtlich Tätige geben der Gesellschaft viel. In Deutschland engagieren sich 23 Millionen Menschen freiwillig, das entspricht etwa einem Drittel der Gesellschaft. Dabei gilt als oberstes Gebot, dass das Ehrenamt auf Freiwilligkeit basiert. Doch das war keineswegs immer selbstverständlich.

Armenpflege als christliche Wurzel

Armen zu helfen hat in der christlichen Kirche Tradition. Doch beschränkte es sich lange Zeit nur auf vereinzelte mildtätige Gaben: spontan, zufällig, punktuell. Die organisierte private Armenpflege durch Ehrenamtliche begann in Deutschland 1788. Der Hamburger Kaufmann Caspar Voght gründete die Hamburger Armenanstalt. Die Unterstützung der Armen sah er als Aufgabe der gesamten Gesellschaft an.

In seiner großen Organisation waren rund 200 Ehrenamtliche tätig: Senats- und Ratsmitglieder ebenso wie Ärzte und Lehrer. Sie leisteten in den verschiedenen Stadtbezirken von Hamburg medizinische und wirtschaftliche Hilfe. Dieses private Engagement sollte die öffentliche Fürsorge ergänzen. Das System legte einen Grundstein für den heutigen Sozialstaat.

Bürgerliche Emanzipationsbewegungen

Eine Stadtansicht von Hamburg als Kupferstich
Ein Kupferstich von Hamburg im 18. JahrhundertBild: picture-alliance/akg-images

Fast zeitgleich, aber ganz und gar unfreiwillig entstand das politische Ehrenamt. Napoleons Armee hatte Preußen 1806 besiegt. Mit Reformen wollte König Friedrich Wilhelm III. sein verkleinertes und geschwächtes Reich wieder stabilisieren. Um seine Finanzen zu schonen, zwang er wohlhabende Bürger, öffentliche Ämter in der kommunalen Verwaltung unentgeltlich zu übernehmen. In der Preußischen Städteverordnung von 1808 taucht dafür erstmals der Begriff Ehrenamt auf.

Mit dem Aufblühen des privaten Vereinswesens bildeten sich Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten wirklich freiwilligen Ehrenämter für immer mehr Bevölkerungsschichten heraus: in den Wohlfahrtsverbänden, in Sportvereinen, in Frauen- und Arbeitervereinen - etwa in dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, einem Vorläufer der heutigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Staat und Gesellschaft auch ohne Bezahlung mitzugestalten, dieser Wunsch setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts auf breiter Basis durch.

Fünf Rudersportler stehen nebeneinander
Jüdische Rudersportler des Ruderclubs Werder Anfang des 20. JahrhundertsBild: picture-alliance/dpa

Ehrenamt in der Diktatur

Seinen Niedergang erlebte das Ehrenamt in Deutschland unter den Nationalsozialisten. Sie hatten ab 1933 nicht nur die Parteien, sondern auch die Vereine und Verbände gleichgeschaltet. Gespendet wurde nun nur noch für das sogenannte Winterhilfswerk. Mit Geld- und Sachspenden sollten Soldaten an der Front ebenso unterstützt werden wie arme Familien. Doch das Spendensammeln für das Winterhilfswerk war keineswegs ein freiwilliges Ehrenamt. Menschen, die sich weigerten als Ehrenamtliche für das Winterhilfswerk zu sammeln, hatten ebenso Sanktionen zu befürchten wie Spendenunwillige. Es gab Fälle von Geldstrafen und sogar Verhaftungen.

Als in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren Ehrenamtliche für die wieder entstandenen Wohlfahrtsverbände mit Spendenbüchse von Haustür zu Haustür gingen, war die Skepsis ihnen gegenüber nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus groß. Spenden sammeln blieb deshalb ein Ehrenamt ohne gesellschaftliches Ansehen.

Alte und neue Formen

In den ersten Nachkriegsjahrzenten wurde auch das freiwillige Ehrenamt wiederbelebt. Im Laufe der Jahre professionalisierten viele Verbände ihre Strukturen, so stellten die Wohlfahrtsverbände auch zunehmend hauptamtliche Sozialarbeiter ein. Im Gegensatz dazu entstanden neue informelle Bürgerinitiativen und Selbsthilfeprojekte, die sich selbstorganisierten und bei denen Menschen zusammen kamen, die das gleiche Anliegen oder die gleichen Sorgen und Probleme hatten.

Die heute laut Freiwilligensurvey der Bundesregierung größten ehrenamtlichen Bereiche wie Sport, Schule, Kultur, Kirche, Soziales sowie die freiwillige Feuerwehr beziehungsweise die Rettungsdienste kannte man schon damals. Die Friedens- und Umweltbewegung entstand erst in den 1980er Jahren. Durch sie bekam das politische Engagement in Deutschland neuen Auftrieb.

Politischer Protest in Ost und West

1981 gründete sich die Greenpeace Deutschland-Gruppe in Hamburg. Ehrenamtliche Helfer planten und führten Aktionen durch, die sich gegen die etablierte Politik richteten und auf Umweltschäden aufmerksam machen sollten. Aus den Protestbewegungen für Frieden und Umweltschutz wurden schnell effizient strukturierte Organisationen, die bis heute hauptsächlich vom freiwilligen Engagement ihrer Unterstützer leben.

Greenpeace-Aktivisten hängen in den Festmacherleinen eines Containerfrachters
Greenpeace protestiert 2013 gegen einen Walfleisch-Transport in HamburgBild: picture-alliance/dpa

Auch in der DDR bildete sich in den 1980ern eine christlich geprägte bis anarchistische Umweltszene heraus. Bei ihren Treffen und öffentlichen Aktionen kritisierten sie die Nichtinformationspolitik der Regierung in Umweltfragen - und schufen damit letztendlich auch den geistigen Freiraum für die Friedliche Revolution von 1989.

Neuer Zwang im Ehrenamt?

Die Bürgerbewegungen des 21. Jahrhunderts sind vielfältiger geworden. Engagement verschiebt sich: beispielsweise von Verein und Verband als Träger hin zu Netzwerken und Freiwilligenagenturen, von langfristiger Bindung zu kurzfristigen Aktionen. So gibt es Menschen, die jede Woche Essen an Obdachlose austeilen und andere, die dies nur einmal im Jahr tun.

Um junge Menschen weiter zum Ehrenamt zu motivieren, schlug die Universität Mannheim 2003 neue Wege ein. "Service Learning" heißt das Modell, das es mittlerweile auch an anderen deutschen Universitäten gibt. Dabei arbeiten Studenten unterschiedlicher Fachrichtungen ein Semester lang ehrenamtlich an Projekten in sozialen Einrichtungen. Dafür gibt es dann Punkte im Bachelor-Studium. Vielleicht ein neuer Zwang. Ob er das Ehrenamt für die Zukunft vorantreibt, wird sich zeigen.

Das Ehrenamt in Deutschland entwickelte sich nicht gradlinig positiv. Es entstand im Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Zwang. Heute ist Ehrenamt für Millionen von Bürgern eine Möglichkeit, das Zusammenleben in Deutschland aktiv mitzugestalten. Mit ihrem Engagement helfen die vielen Ehrenamtlichen nicht nur anderen, sie prägen auch das gesellschaftliche Klima in Deutschland.