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Wie sich Israelis und Palästinenser in Deutschland begegnen

Sarah Judith Hofmann
14. März 2024

Im Gazastreifen mangelt es an allem - auch an Toiletten. Eine Israelin und eine Palästinenserin in Deutschland beschließen zu helfen. Sie sind Teil einer größeren Gruppe, die zeigt: Dialog ist möglich.

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Deutschland | israelisch-palästinensischen Dialoggruppe in Berlin
Teilnehmerinnen des Dialogworkshops von Israelis und Palästinensern in Berlin: Tom Kellner, Seba Abu Daqa, Gali Blay und Elisha Baskin (v. l.)Bild: Slieman Halabi

Einen mal einen Meter messen die Toilettenkabinen, abgedichtet mit Plastikplanen, angebracht an einfachen Holzleisten. Ein Quadratmeter Privatsphäre an einem Ort, an dem sich tausende Menschen dicht drängen. Die israelische Armee hat das einstige Dorf Al-Mawasi als sogenannte "Schutzzone" ausgewiesen, aber ohne entsprechende Infrastruktur. 

Projekt Clean Shelter
Toilettenkabine von Clean Shelter im Flüchtlingslager Al-Mawasi im GazastreifenBild: Clean Shelter

"Meine Eltern, Freunde, Bekannte sind in Al-Mawasi. Ich fragte all meine Kontakte, was die Menschen am nötigsten brauchen, und die Antwort war: Toiletten, Duschen, Zelte. Und als Tom mich fragte, ob sie helfen könne, sagte ich ja." Das erzählt Seba Abu Daqa. Sie ist Palästinenserin und stammt aus dem Gazastreifen. Tom Kellner ist jüdische Israelin aus Haifa. Heute leben beide in Deutschland, Abu Daqa in München, Kellner in Berlin. In Israel und Gaza wären die beiden einander nie begegnet. In Deutschland ist dies möglich.

Kellner und Abu Daqa schickten Spendenaufrufe an Freunde, Bekannte, Verwandte in Israel, in den Palästinensischen Gebieten, in Deutschland und weltweit. Abu Daqa nutzte ihre Netzwerke in Gaza, um Materialien und den Bau der Sanitäranlagen und Zelte zu organisieren. Denn von Beginn an war klar: Sie würden nur mit dem arbeiten können, was bereits im Gazastreifen vorhanden ist. Selbst große Hilfsorganisationen scheitern aktuell daran, Material in den Gazastreifen zu bringen - angesichts der Restriktionen durch das israelische Militär.

Eine der Toiletten kostet zwischen 200 und 500 Euro. Seit Beginn des Projekts Clean Shelter im Januar konnten 28 Toiletten, einige davon mit Duschen, aufgestellt werden, sowie 30 Zehn-Personen-Zelte.

Krieg in Nahost – Einsamkeit in Europa

Kennengelernt haben sich die beiden Frauen über ein Dialogprojekt für Israelis und Palästinenser, die in Europa leben. Seit Wochen treffen sie sich regelmäßig per Videoschalte, vor kurzem sind sie sich erstmals bei einem gemeinsamen Workshop in Berlin begegnet. Initiiert hat die Dialoggruppe Slieman Halabi, promovierter Sozialpsychologe und Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, der wie Abu Daqa inzwischen in München lebt. "Gerade jetzt, wo Krieg herrscht, fühlen wir uns hier in Europa sehr einsam", sagt er.

Halabi wurde im Friedensdorf Neve Shalom (Hebräisch) / Wahat al-Salam (Arabisch), gelegen zwischen Tel Aviv und Jerusalem, als Moderator ausgebildet. Das Ziel der School for Peace in dem Friedensdorf: Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern zu ermöglichen. "Wir versuchen nicht, eine unmittelbare Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt zu finden. Aber wir glauben daran, dass man zur Suche nach einer Lösung die Perspektive des anderen verstehen muss."  

Deutschland | israelisch-palästinensischen Dialoggruppe in Berlin | Slieman Halabi und Gali Blay
Er hat das Treffen organisiert: Der Palästinenser Slieman Halabi gemeinsam mit Gali Blay, jüdisch-israelische Teilnehmerin des Workshops in BerlinBild: Sarah Hofmann/DW

An der ersten Dialoggruppe der School for Peace außerhalb Israels nahmen auch Palästinenser aus Gaza, aus Syrien, aus dem Westjordanland teil und trafen auf jüdische Israelis. Möglich war dies nur, weil alle inzwischen in Europa leben. Die Idee einer Gruppe von "Exil-Israelis und Palästinensern" hatte Halabi bereits seit langem, die erste Zusammenkunft setzte er als Online-Termin an - für den 8. Oktober 2023. Die 17 Teilnehmer konnten nicht wissen, dass sie dieses Treffen im Schockzustand erleben würden.

Am 7. Oktober durchbrachen hunderte Terroristen der Hamas und anderer militant-islamistischer Gruppen aus Gaza die Grenzanlagen zu Israel. Sie töteten 1160 Menschen, verschleppten rund 250 Geiseln nach Gaza, die meisten von ihnen Zivilisten, darunter etliche Frauen und Kinder.

Slieman Halabi erinnert sich, wie er an dem Tag die Nachrichten verfolgte: "Und ich konnte nichts tun außer dort zu sitzen, zuzuschauen und verrückt zu werden."

Mehr als 30.000 Palästinenser in Gaza getötet

Etliche derjenigen, die eine Einladung zu dem Treffen erhalten hatten, fragten, ob sie das Ganze nicht absagen sollten. Doch das wollte Halabi auf keinen Fall. "Ich sagte ihnen: Bitte kommt. Wir müssen sprechen, jetzt erst recht." Alle 17 Teilnehmer loggten sich am nächsten Tag zum Videocall ein.

Hamas-Israel-Krieg | Israelischer Militäreinsatz im Gazastreifen
Israelische Soldaten Ende Februar im GazastreifenBild: Israel Defense Forces/REUTERS

Darunter war Gali Blay, die nun neben Halabi in einem Café in Berlin-Neukölln sitzt und die eine Cousine hat, deren Familie in Be’eri lebte, einem der Kibbutzim, in dem die Terroristen schlimmste Gräueltaten verübten. "Zu dem Zeitpunkt hatte ich die Tragweite noch gar nicht begriffen, ich war einfach im Schock. Alle waren im Schock", erinnert sie sich. Später erfuhr sie, dass Teile ihrer Verwandtschaft ermordet wurden. Und doch - oder gerade deswegen - dachte sie auch an die Menschen in Gaza. "Meine Befürchtung war, dass die Reaktion von israelischer Seite extrem hart sein würde. Ich ahnte, es würde auch viele Zivilisten in Gaza treffen."

Kurz nach dem 7. Oktober begann das israelische Militär mit massiven Luftschlägen auf Gaza, es folgte eine Bodenoffensive und eine weitreichende Abriegelung des Küstenstreifens. Mehr als 30.000 Palästinenser wurden nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums bislang in Gaza getötet. Die Vereinten Nationen warnen, der Gazastreifen stehe vor einer Hungersnot. Und noch immer befinden sich mehr als 100 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas, die von der EU, den USA und anderen als Terrororganisation eingestuft wird. Die Chancen auf Dialog zwischen Israelis und Palästinensern könnten nicht schlechter stehen.

Kann man lernen, miteinander zu sprechen?

"Zu Beginn jeder neuen Gruppe beschließen wir gemeinsame Regeln, wie wir miteinander sprechen wollen", erklärt Halabi. Niemand wolle beschimpft oder verletzt werden. Die wichtigste Regel: Einander zuhören. "Einige Palästinenser fragten zum Beispiel: Was geht in einem israelischen Soldaten vor, der Gaza bombardiert?" Sensible Themen, bei denen es zum Teil sehr emotional zugehe. Bei der Begegnung in Berlin wurde viel geweint, aber sich auch umarmt, erzählen Halabi und Blay. "Es war, als lebe man in einer anderen Realität, in einer Welt, die von Liebe und Respekt geprägt ist", sagt Blay. In Europa und besonders in Deutschland sei der Dialog über den israelisch-palästinensischen Konflikt vergiftet. Menschen stempelten einander sofort ab, auch der Vorwurf von Antisemitismus werde ihrer Ansicht nach - einer Enkelin von Holocaustüberlebenden - in Deutschland viel zu schnell vorgebracht. "Das ist das Gegenteil von dem, wie wir in der Gruppe miteinander kommunizieren."

„Dialogworkshop“ von Israelis und Palästinensern in Berlin
"Eine alternative Realität voll Liebe und Respekt": Tom Kellner (r.) umarmt eine andere Teilnehmerin des Workshops in BerlinBild: Slieman Halabi

Seit dem 7. Oktober sei deutlicher denn je, dass sich etwas ändern müsse - für Israelis und für Palästinenser. "Wir wollen Wandel", so Halabi. "Menschen auf beiden Seiten werden dazu erzogen, einander zu hassen, sie wurden durch Angst sozialisiert. Aber ich habe Menschen erlebt, die sich nach den Begegnungen verändert haben." Ziel sei, einen Wandel von unten zu bewirken, Menschen dazu zu bewegen, sich zu engagieren, zu Aktivisten zu werden.

Seba Abu Daqa, Tom Kellner und Gali Blay sind aktiv geworden. Gali Blay erstellte die Homepage für Clean Shelter. Und die Sanitäranlagen bieten nicht nur einen Quadratmeter Privatsphäre - sie können Leben retten: Hilfsorganisationen warnen seit langem vor Krankheiten durch fehlende Hygiene im Gazastreifen, denn es mangelt an sauberem Wasser zum Trinken und zum Waschen.

Projekt Clean Shelter
Zelte von Clean Shelter, teilweise gebaut mit Planen von Unicef, die im Gazastreifen bereits vorhanden waren.Bild: Clean Shelter

Wie lange die Zelte und Toilettenkabinen stehen werden, weiß die Gruppe nicht. Das israelische Militär kündigt seit einiger Zeit an, es plane eine Bodenoffensive in Rafah, im Süden des Gazastreifens. Was dies für Al-Mawasi bedeutet, ist unklar. "Aber immerhin tun wir jetzt etwas", sagt Abu Daqa, "anstatt immer nur verzweifelt zuzuschauen und zuzulassen, dass andere die Akteure sind."