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Wieder ein Sommer der Unzufriedenen

Tania Krämer15. Juli 2012

Ein Jahr nach Beginn der Sozialproteste sind in Israel wieder Tausende auf die Straßen gegangen. Überschattet wurde eine Demonstration in Tel Aviv von der Selbstverbrennung eines Demonstranten.

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Demonstranten marschieren durch die Straßen von Tel Aviv und halten Transparente hoch (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images

"Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit" - skandiert eine Gruppe junger Israelis am Samstagabend in Tel Aviv. Der Slogan des vergangenen Protest-Sommers ist auch dieses Jahr wieder zu hören. Mit der Demonstration in Tel Aviv wollen die Demonstranten an den Sozialprotest des letzten Jahres erinnern und zeigen, dass sie noch da sind. Auch in Jerusalem, Haifa und Beer Sheva gibt es Aktionen an diesem Abend.

Demonstrationen gegen gestiegene Lebenshaltungskosten und niedrigen Gehälter. (Foto: DW/ Tania Krämer)
Wieder protestieren Israelis gegen soziale UngerechtigkeitBild: DW

Es ist wie immer bunt und laut; Trommeln und Musik übertönen die Sprechchöre. Die Zahl der Demonstranten ist kleiner ausgefallen als erwartet, aber die, die gekommen sind, geben sich zuversichtlich: "Das Ganze ist doch schon in sich eine große Veränderung", sagt die junge Israelin Aya Schwedt. "Viele Menschen sind viel aktiver geworden, nachdem wir lange Jahre nichts gesagt haben und zu Hause geblieben sind und alle nur deprimiert waren."

Selbstverbrennung eines Demonstranten

Andere Demonstranten in Tel Aviv sind an diesem Abend etwas nachdenklicher: "Ich glaube, um Erfolg zu haben, müssen wir auch an die großen Themen heran, die unsere Gesellschaft prägen", meint eine andere junge Demonstrantin. "Das beginnt bei einer Diskussion über die israelische Besatzung, über die Prioritäten in diesem Land, das nur Geld in die Armee steckt und wo es immer nur um Sicherheit geht, um die Armee, Raketen und Iran."

Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit hat viele Gesichter – und viele Themen. Doch die Atmosphäre in diesem Sommer ist eine andere. Nach der Demo übergießt sich ein Mann mit brennbarer Flüssigkeit und zündet sich an. Der 57-Jährige hat einen Brief bei sich, in dem er auf seine schwierige Lebenssituation aufmerksam machen will. Der Mann wird mit schweren Verbrennungen auf 90 Prozent der Haut in ein Krankenhaus gebracht und schwebt in Lebensgefahr. Es ist ein Schock für die Protestbewegung, der aber ihre Beweggründe unterstreicht.

Selbstverbrennung eines Demonstranten in Tel Aviv (Foto: REUTERS)
Ein Demonstrant zündete sich selbst anBild: Reuters

Auch Stav Shaffir ist in diesem Jahr viel nachdenklicher. Die junge Journalistin und Aktivistin ist eines der Gesichter der israelischen Protestbewegung: Die zierliche Frau mit den leuchtend roten Haaren gehört zu der kleinen Gruppe, die im Juli letzten Jahres die ersten Zelte auf dem Rothschild-Boulevard aufbaute. Das war der Beginn des israelischen Protestsommers. "Seither ist eine Menge passiert", erzählt die 27-Jährige. "Wir haben unsere Naivität verloren. Wir hatten gedacht, dass die Regierung Verantwortung übernehmen würde, dass sie zugeben würde, dass Fehler gemacht wurden und dass es nun an der Zeit ist, eine neue Richtung einzuschlagen. Aber das ist nicht geschehen."

Mehr politischer Einfluss

2011 gingen in den großen Städten Israels Zehntausende auf die Straße. Aus dem anfänglichen Protest gegen hohe Mieten und teure Lebenshaltungskosten wurde eine breite Protestbewegung für soziale Gerechtigkeit. In Israel und im Ausland sah man mit viel Sympathie auf das bunte Zeltlager auf dem Rothschild-Boulevard mitten im Herzen von Tel Aviv. In einer Umfrage der israelischen Tageszeitung Haaretz gaben aber nur 26 Prozent der Israelis an, dass sich ihre soziale Situation nach den Protesten verbessert habe. Eine ernüchternde Bilanz, meinen einige, und Grund genug für andere, wieder auf die Straße zu gehen.

Porträtaufnahme Stav Shaffir (Foto: DW/ Tania Krämer)
Stav ShaffirBild: DW-TV

"Der letzte Sommer war magisch", sagt Stav Shaffir. "Aber wir sollten nicht versuchen, das zu wiederholen.“ Stattdessen müsse man mit anderen Strategien versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. "Wir gehen in die verschiedenen Ecken des Landes und gründen Gruppen, die sich um bestimmte soziale Probleme kümmern, wie das Gesundheitssystem, Steuern, Umwelt. Wir brauchen neues Blut in der Politik." Viele junge Leute hätten das Vertrauen in die Politik verloren, sagt Shaffir. Auch sie habe bei den letzten Wahlen nicht gewusst, wen sie wählen sollte. "Ich möchte jemanden wählen, dem ich glaube", sagt Shaffir.

Neue Protestbewegung

Inzwischen sind sie aber nicht mehr die einzigen, die ihrer Unzufriedenheit Luft verschaffen: Die soziale Protestbewegung hat Konkurrenz bekommen. Am Arlozoroff-Bahnhof in Tel Aviv haben andere Aktivisten ihre tarnfarbenen Militärzelte aufgebaut. Sie fordern Wehrgerechtigkeit. Am vergangenen Samstag (14.07.2012) hatten sie zu einer Demo in Tel Aviv aufgerufen: Mehr als 20.000 Israelis kamen. Ihre Forderung: Keine Ausnahmeregeln mehr für die Haredim – die Ultra-Orthodoxen und Wehrpflicht für alle.

Protestzelte: "Wehrdienst-für-alle-Kampagne". (Foto: DW)
Protest-Camp für WehrgerechtigkeitBild: DW-TV

Boaz Nol hat die Nase voll von Drückebergern. Der 34-Jährige hat seinen Wehrdienst absolviert und muss nun jedes Jahr als Reservist für ein bis zwei Wochen zur Armee. "In Israel gibt es eine Wehrpflicht. Jeder Bürger, egal ob junger Mann oder junge Frau, muss mit 18 zur Armee. Wir müssen unserem Land dienen, wir gehen zur Armee und keiner fragt uns", erzählt Nol. "Leider aber gibt es aus politischen Gründen den streng-religiösen Teil unserer Gesellschaft, der davon befreit ist. Und wir sagen, das ist nicht fair."

Demonstranten fordern Wehrdienst auch für Religiöse

Auch Adi Cohen sitzt hier bei 35 Grad im Schatten und sammelt Unterschriften von Passanten. Drei ihrer vier Kinder haben bereits Dienst an der Waffe geleistet, ein Sohn ist derzeit bei der Armee. "Auch die Ultra-Orthodoxen müssen dienen. Auch ihre Kinder müssen mit 18 eingezogen werden. Danach können sie arbeiten oder studieren." So wie ihr Sohn drei Jahre für das Land opfere, müssten es auch die Religiösen tun, fordert die vierfache Mutter. "Es kann doch nicht sein, auch wenn das pathetisch klingt, dass auf den Soldatenfriedhöfen nur Nicht-Religiöse liegen."

Protestzug: Die Demonstranten wollen, dass auch orthodoxe Juden den Militärdienst machen (Foto: DW)
Demonstration für mehr WehrgerechtigkeitBild: DW/I.Makler

Den Demonstranten geht es um Gleichheit vor dem Gesetz. Am meisten aber ärgert sie der Zick-Zack-Kurs der Regierung, die bis August ein neues Wehrgesetz verabschieden muss, sich aber bislang nicht auf einen gemeinsamen Entwurf einigen konnte. Die Aktivisten wollen weiter Druck ausüben: Bereits nächste Woche soll es wieder eine große Demonstration geben.