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Willkommen in Berlinle

1. Januar 2013

Die Schwaben sind ein komisches Volk, außerdem passen viele von ihnen einfach nicht in die deutsche Hauptstadt. Diese Ansicht vertritt Bundestagsvizepräsident Thierse und hat damit eine aberwitzige Debatte losgetreten.

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Person in Schürze hält einen Teller mit Rouladen und Spätzle in der Hand (Foto: Johanna Schmeller)
Bildergalerie Rouladen mit SpätzleBild: Johanna Schmeller

Schwaben sind zwar auch Menschen, aber irgendwie doch anders. Nicht nur dass bei ihnen fast jedes Wort auf "-le" endet, sogar Namen wie der des FDP-Fraktionschefs im Deutschen Bundestag, Rainer Brüderle, oder der typisch schwäbische Familienname Häberle.

Nein, in Baden-Württemberg, dem deutschen Bundesland, wo die Schwaben herkommen und nach Ansicht von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) auch hingehören und wo man sich gerne Spätzle (das auf unserem Artikelbild nebst Rouladen zu sehende Teigwarengericht) macht, sagt man zu Brötchen auch nicht etwa Brötchen, sondern "Wecken".

Crashkurs für Zugereiste

Dabei heißt es korrekt "Schrippen", wie Thierse weiß und dieser Tage nicht müde wird, der schwäbischen Bevölkerungsmehrheit in seinem Berliner Kiez zu erklären. Thierses eindeutige Bilanz: Die Integration der Schwaben in seinem Viertel, dem Prenzlauer Berg, ist gescheitert.

Er ärgere sich einfach, wenn ihm beim Bäcker gesagt werde, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken, sagte der Sozialdemokrat kurz vor dem Jahreswechsel zunächst der "Berliner Morgenpost", und fügte hinzu: "Da sage ich: In Berlin sagt man Schrippen, daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen. Genau das gleiche mit Pflaumendatschi. Was soll das? In Berlin heißt es Pflaumenkuchen." Später wiederholte Thierse seine Äußerungen im auch in Baden-Württemberg zu empfangenden Deutschlandfunk.

Laugenstangen und belegte Brötchen in einer Berliner Bäckerei (foto:dpa)
Schrippen - nicht Wecken !Bild: picture-alliance/dpa

Thierse will Artenschutz

Er wünsche sich, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind, und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche, unterstrich der SPD-Politiker. "Sie kommen hierher, weil alles so bunt und so abenteuerlich und so quirlig ist, aber wenn sie eine gewisse Zeit da waren, dann wollen sie es wieder so haben wie zu Hause. Das passt nicht zusammen."

Wolfgang Thierse (foto: archiv)
Bundestagsvize Thierse (SPD) provozierte Empörung aus dem Schwaben-LändleBild: picture alliance / SCHROEWIG/Eva Oertwig

Zumal die Überfremdung in Thierses Augen schon ziemlich weit fortgeschritten ist. Er wohne seit 40 Jahren ununterbrochen im Stadtteil Prenzlauer Berg, wo aber inzwischen 90 Prozent seiner Nachbarn Zugezogene seien, meinte er in der "Berliner Morgenpost" weiter. "Ich sage ironisch: Ich muss als einer der letzten Eingeborenen dort wohl allmählich unter Artenschutz gestellt werden."

Schwaben geben Kontra

Die Reaktionen auch prominenter Schwaben und Politiker, die solcherlei Schmähungen des stellvertretenden Parlamentspräsidenten nicht einfach so stehen lassen wollten, ließen nicht lang auf sich warten. So konterte der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg und heutige EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU) in der "Bild"-Zeitung: "Ohne die Schwaben wäre die Lebensqualität in Berlin nur schwer möglich. Denn wir zahlen da ja jedes Jahr viel Geld über den Länderfinanzausgleich ein."

Auch Grünen-Chef Cem Özdemir, der sich selbst einen "anatolischen Schwaben" nennt, meldete sich zu Wort. Er gab in der "Bild"-Zeitung zu bedenken, dass viele Schwaben schließlich zum Arbeiten in die Hauptstadt kommen. "Die Berliner sollen uns Schwaben dankbar sein und nicht über uns lästern wie Herr Thierse."

Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) ging Thierse persönlich an. "Die Schwaben in Berlin passen zum modernen Deutschland weitaus besser als mancher pietistische Zickenbart", erklärte Niebel, der Spitzenkandidat der baden-württembergischen FDP ist.

Folgenloses Lästern

Im neuen Jahr kommt Thierse in einem Gespräch mir dem Berliner "Tagesspiegel" (Mittwochausgabe) zu dem Schluss, die ganze Aufregung um seine Äußerungen sei "lächerlich". Dass sich die "organisierte Schwabenschaft" so über seine "freundlich-heitere Bemerkung" mokiere, "forciert eher Vorurteile, als dass es sie abbaut". Er ergänzte: "Dass Schwaben so ernst reagieren, überrascht mich. Berliner haben mehr Witz."

Den Beweis dafür blieb er selbst indes bislang schuldig. Der 69-jährige Sozialdemokrat mit DDR-Biografie braucht übrigens nicht zu fürchten, sein Lästern könnte Wähler abschrecken: Thierse scheidet im Herbst nach 22 Jahren Abgeordnetentätigkeit aus dem Bundestag aus und stellt sich nicht wieder zur Wahl.

gri/SC (dapd, dpa)