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"Wir blicken erwartungsvoll nach Europa"

19. September 2011

Libyen hat Öl. Aber Libyen hat auch vier Jahrzehnte Diktatur zu bewältigen. Dabei benötigt es Unterstützung, meint die libysche Bloggerin Ghaida Touati in ihrem Gastkommentar.

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Porträt der libyschen Bloggerin Ghaida Touati (Foto: dw)
Ghaida Touati ist eine der bekanntesten libyschen BloggerinnenBild: DW

42 Jahre diktatorischer Herrschaft sind für einen jungen Staat wie Libyen eine sehr lange Zeit. Unter Muammar al-Gaddafi ist jeder Ansatz von Zivilgesellschaft und wirklichem politischen Leben erstickt worden. Die Menschen wurden psychisch geradezu zerstört durch eine beispiellose Repression des Regimes gegen die eigene Bevölkerung. Deshalb benötigt Libyen nicht nur kurzfristig, sondern auch auf lange Sicht die Unterstützung der Weltgemeinschaft - insbesondere Europas, das den Verbrechen am libyschen Volk nicht schweigend zugesehen hat. Wir Libyer erwarten jetzt, dass unsere europäischen Partner sich unseres jungen Staates annehmen und ihn begleiten auf dem Weg in eine leuchtende Zukunft. Libyen soll wieder seinen Platz in der Weltgemeinschaft einnehmen und dazu beitragen, international Sicherheit und Frieden zu wahren.

Die Skala der Prioritäten beim Wiederaufbau des libyschen Staates beginnt mit der Sicherung der weitläufigen Grenzen des Landes – aus meiner Sicht ein ganz entscheidender Punkt in der heutigen Zeit. Notwendig sind der Aufbau einer Armee und eines Sicherheitsapparates, die im Einklang mit einer demokratischen Ordnung stehen. Hierzu kann Europa beitragen, indem es Libyen mit den modernsten Anlagen zur Überwachung seiner Grenzen ausrüstet und das entsprechende Personal ausbildet – nicht nur zur potentiellen Landesverteidigung, sondern auch zur Kontrolle illegaler Immigration.

Zivilgesellschaft muss erst aufgebaut werden

Wir Libyer blicken in dieser schwierigen Phase erwartungsvoll auf alle Staaten, die uns unterstützen. Gerade von Europa, mit dem wir durch Nachbarschaft und Geschichte eng verbunden sind, erhoffen wir uns Kooperation, um das Klima für ein demokratisches Libyen zu schaffen. Unser Land benötigt Unterstützung für den Aufbau einer Zivilgesellschaft, um eine Streitkultur zu etablieren, die auf gegenseitiger Toleranz beruht.

Nicht-Regierungs-Organisationen, die sich für Menschenrechte und einen modernen Staat einsetzen, müssen in Libyen erst noch aufgebaut werden. Ein großer Teil des libyschen Volks hat bisher keine Erfahrungen mit einer politischen Kultur, die eine Wahl von Entscheidungsträgern durch mündige Staatsbürger vorsieht, so wie wir es für die kommende Zeit planen. Dies ist nicht ungefährlich. Ordentliche Wahlen sind elementar für den Übergang des Landes in eine neue Phase, die von Sicherheit geprägt sein soll – und nicht von neuen Kämpfen zwischen unterschiedlichen Gruppen.

Schwieriger Abschied vom "Gaddafi-Syndrom"

Libyen benötigt eine Strategie für den Aufbau demokratischer Institutionen, der sich erst noch herauskristallisieren muss. Dazu gehört nicht zuletzt die Justiz- und Rechtsordnung. Es gibt zahlreiche Gesetze, unter denen das Volk Jahrzehnte lang leiden musste. Jetzt ist es an der Zeit, sie schnell zu ändern, und die Rechte des einzelnen Bürgers zu garantieren. Zugleich müssen die Menschen erst noch lernen, dass die Zeiten der auf Unterdrückung basierenden Zwangs-Glorifizierung von Personen und Institutionen endgültig vorbei ist. Sie müssen ihr "Oberst-" bzw. "Gaddafi-Syndrom" loswerden. Sie haben jetzt ein Recht auf friedliche Demonstrationen, auch gegen Beschlüsse der neuen Übergangsmachthaber.

Auch das Gesundheits- und Bildungssystem ist unter Gaddafi völlig ruiniert worden. Wir werden "Armeen" von Organisationen benötigen, um Qualifizierungskurse für Lehrer und medizinisches Personal auf die Beine zu stellen und neue Einrichtungen auf hohem Wissens- und Technikniveau aufzubauen. Europäische Institutionen könnten dabei helfen, Einrichtungen für die Ausbildung und Rehabilitation von Gewaltopfern zu schaffen. Die Wirtschaft liegt nach Jahren der Ächtung und Kriminalisierung bürgerlichen Privateigentums danieder. Und nicht zuletzt haben wir die Hoffnung, dass Europa Libyen beim Aufbau einer neuen Infrastruktur im Bereich der Kommunikation und Informationstechnologie hilft, einschließlich der Entwicklung freier Medien.

Unabhängige Medien notwendig

Die Libyer waren unter Gaddafi lügenhafter Propaganda ausgesetzt. Deshalb müssen sich Journalisten, Blogger und Menschenrechtsaktivisten jetzt schnell professionell fortentwickeln können. Ohne unabhängige, gut entwickelte Medien als Kontrollinstanz wird es auch im neuen Libyen keine gute Regierungsführung geben können.

Das libysche Volk verfügt über große Kenntnisse und Fähigkeiten, aber die meisten ihrer Träger befinden sich im Ausland, ein beträchtlicher Teil davon in Europa. Ich wünsche mir ihre baldige Rückkehr, damit sie sich am Aufbau beteiligen können. Der Wiederaufbau ist eine Mammutaufgabe, und wir Libyer sollten uns bewusst sein, dass wir durch Solidarität, Einheit und gemeinsames Wirken für Sicherheit und Stabilität auch den Weg ebnen, um die notwendige internationale Hilfe für unseren Wiederaufbau zu erhalten. Der ist nach 42 Jahren Gaddafi bitter nötig: Libyen hat keinerlei Infrastruktur und keinerlei funktionierende Institutionen - keine Basis, auf der sich ein neuer Staat aufbauen lässt.

Autorin: Ghaida Touati
Redaktion: Rainer Sollich

Ghaida Touati, Menschenrechtsaktivistin aus Tripolis, ist eine der bekanntesten libyschen Bloggerinnen. Unter der Herrschaft Muammar al-Gaddafis saß sie mehrere Monate in Haft.