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'Wir brauchen Mythen'

28. März 2009

Mythen sind wichtig, auch für die Deutschen – sagt Herfried Münkler, Preisträger der Leipziger Buchmesse 2009. Doch die mythischen Gestalten sind meist weit weg von uns. An neuen Mythen mangelt es ihm hierzulande.

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Roter VW-Käfer (Foto: AP)
Einer der wenigen modernen Mythen: der VW-Käfer als Symbol des 'Wirtschaftswunders'Bild: AP

Die Nibelungensage, Kaiser Barbarossa und Dr. Faust, der große Erkenntnisstrebende - die meisten von uns können mit diesen Geschichten nur wenig anfangen. Dabei öffneten sie den Deutschen einst den Weg in die Zukunft, sagt Herfried Münkler. Das sei auch heute noch wichtig. Für sein Buch "Die Deutschen und ihre Mythen" ist er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2009 ausgezeichnet worden.

DW-World: Herfried Münkler, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass Mythen eine wichtige Funktion für eine Gesellschaft haben. Welche ist das?

Münkler: Mythen strukturieren unser Leben, indem sie historische Ereignisse in einer gewissen Sinnhaftigkeit erzählen. Damit erklären sie der Gemeinschaft, warum sie da ist und versichern zugleich, dass sie nicht verschwinden wird. Mythen sind so etwas wie eine Kontingenzabwehr: etwas, das Zufälle zurückdrängt. Von daher ermöglichen sie natürlich auch Gewissheit hinsichtlich der Zukunft, sie geben Vertrauen, dass man künftige Aufgaben meistern kann.

Als Beispiel nennen Sie unter anderem den Mythos des Wirtschaftswunders in Deutschland und sein Symbol, den VW-Käfer. Der hatte aber noch eine andere Funktion?

Porträt Herfried Münkler (Foto: picture-alliance)
Herfried Münkler präsentierte sein Buch im März auf der Leipziger BuchmesseBild: picture-alliance/ ZB

Ursprünglich war der Käfer ja mit diesen weichen Formen ausgestattet, das war der ursprüngliche Entwurf von Ferdinand Porsche. Im Krieg wurde er dann kantig, er wurde zum Militärwagen und damit Symbol des deutschen Hegemonialanspruchs. Die Frage war dann: Wie kommt man nach 1945, im allmählichen Aufstieg des Wirtschaftswunders der 1950er Jahre mit seinen europäischen Nachbarn wieder ins Reine? Man nimmt die kantigen Formen zurück und hat ein Auto, das dem Kindchen-Schema genügt. Also große Augen, übergroßer Kopf und relativ kleiner Körper. Auf diese Weise hat man Beißhemmung bei allen Nachbarn organisiert. Die Deutschen haben sich selbst verharmlost.

Sie erwähnen auch die "Blühenden Landschaften" des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl nach der Wende 1989/90. In eben solche wollte er die neuen Bundesländer verwandeln. Was hat dieser Mythos 1990 bewirkt?

Helmut Kohl vor dem Brandenburger Tor 2003 (Foto: ap)
Kohl und die Wiedervereinigung - ein Mythos?Bild: AP

Mythen schaffen Zutrauen in die eigene Handlungsfähigkeit, und das kann man sehr schön in der Verbindung mit dem Wirtschaftswunder-Mythos sehen. Wenn wir uns das Jahr 1990 anschauen, dann ist es ja ganz erstaunlich, mit welcher Zielsicherheit und welchem Zutrauen Kohl in diese unüberschaubare Situation hineingeht – ganz im Gegensatz übrigens zu Oskar Lafontaine, der nur über Kosten sprach. Kohl glaubte fest daran, dass die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik sich übertragen lässt. Also: Währungsunion, dann irgendwann Beitritt der neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, und dann "Blühende Landschaften". Dass die so nicht eingetreten sind, das gehört dann irgendwann auch dazu. Der Mythos wäre überfordert, wenn er eine zuverlässige Verheißung wäre. Aber entscheidend war das Zutrauen bei Kohl, dass das zu schaffen ist, während andere noch zauderten.

Wie sieht es gegenwärtig mit der Mythenbildung aus? Haben Mythen eine politische Zukunft?

Selbstverständlich. Wir brauchen sie. Wenn man sich nur vor Augen führt, wie sehnsüchtig die Deutschen in den letzten Monaten in die USA geschaut haben, wo mit Obama gewissermaßen ein politischer Mythos zurück auf die Bühne gekehrt ist, gibt es gar keine Frage, dass Mythen eine unverzichtbare Ressource von Politik sind.

Das Interview führte Kersten Knipp

Redaktion: Petra Lambeck