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"Wir haben den Glauben an eine schöne Zukunft eingebüßt"

Elena Beier26. April 2006

Bücher der Schriftstellerin Alexijewitsch gelten in ihrer weißrussischen Heimat als "schädlicher" als die radioaktive Strahlung. Sie fordert in ihrer "Chronik der Zukunft" nur grundsätzliches Umdenken.

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Swetlana Alexijewitsch: "Wie der Dritte Weltkrieg"Bild: picture-alliance/ ZB

Jeder Vierte – und das sind rund 2,1 Millionen Menschen – lebt in ihrer Heimat Weißrussland im verseuchten Gebiet. Und ausgerechnet dort ist das Buch von Swetlana Alexijewitsch als "schädlich" verboten: Die letzte Diktatur Europas steht in der Tradition der sowjetischen Geheimhaltung und Verleugnung: Wenn man schon die Menschen nicht vor der Strahlung schützen kann, dann wenigstens vor der Information darüber. Dabei will Alexijewitschs "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" weniger den Totalitarismus anprangern oder für Atomausstieg werben. Die Autorin fordert vielmehr ein Umdenken: "Tschernobyl ist das größte Ereignis des 20. Jahrhunderts. Vielleicht sogar das größte der menschlichen Geschichte. Davon bin ich überzeugt. Doch leider haben wir es nicht als ein Zeichen, als Symbol gedeutet."

Als "verstrahltes Objekt" begraben

Am 26. April 1986 um 01:23:58 Uhr zerstörte eine Serie von Explosionen den Reaktor und das Gebäude des vierten Blocks im Atomkraftwerk Tschernobyl. Was danach kam, darüber erzählt im Buch von Swetlana Alexijewitsch die Witwe eines Feuerwehrmannes: Ihr Mann fuhr in den ersten Minuten nach der Havarie zum Einsatz, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Brand, binnen 14 Tage starb er einen grauenvollen Tod starb und wurde als "verstrahltes Objekt" unter der Betonschicht fern der Heimat begraben.

Atompilz
Wie ein einzigartiges, himbeerfarbenes Leuchten?Bild: AP

Eltern traten mit ihren Kindern auf dem Arm auf die Balkone hinaus und bewunderten das "seltsam schöne himbeerrote Glühen" des brennenden Reaktors wie ein Naturschauspiel. Später mussten die Soldaten die Menschen mit Gewalt aus ihren Häusern schleppen, weil sie nicht evakuiert werden wollten. Über ihr beschwerliches Leben in der "Zone" Jahre danach sprechen einfache Bauern, die bereits nach kurzer Zeit in ihre verstrahlten Dörfer zurückkehrten, weil sie den Gräbern ihrer Ahnen näher sein wollten. Drei Jahre lang reiste die Autorin durch Weißrussland und die Ukraine und befragte Opfer und Betroffene der Katastrophe.

Es geht um die Zukunft

Doch das Buch soll nicht allein eine Dokumentation der Ereignisse sein, sondern auch ein Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen, so Alexijewitsch: "Nicht nur als Bericht über Tschernobyl, sondern als ein ernsthaftes Gespräch über uns und unsere Zukunft". Der Diskussion über die Nutzung der Atomenergie entzieht sie sich hingegen: "Ich gehöre nicht zu den Menschen, die völlig verantwortungslos erklären, wir wären heute im Stande, alle Kernkraftwerke zu schließen."

BdT Tschernobyl
Straßenschilder erinnern an die verseuchten GeisterstädteBild: picture-alliance/dpa

Die Menschen müssten verstehen, dass sie den technischen Möglichkeiten, über die sie verfügen, nicht ebenbürtig sind und der Mensch "aus Sicht der Natur eine ziemlich missratene Kreatur ist". Er müsse sein Weltbild, in dem er selbst die "Krone der Schöpfung" sei, einer Revision unterziehen. "Wir sollten uns darauf einstellen, anstatt zu nehmen, zu enträtseln, nach unserem Platz in dieser göttlichen Welt zu suchen und ihre Zusammenhänge zu begreifen", mahnt Alexijewitsch.

Der Beginn einer neuen Ära

Für Swetlana Alexijewitsch, die mehrere Reisen in die verseuchten Gebiete unternommen hat, war Tschernobyl der Anfang einer neuen Ära: "Tschernobyl hat unser ganzes Leben verändert. Zum Beispiel die Begriffe "Nahe" und "Fern": Am vierten Tag war die verseuchte Wolke bereits über China. In einer Woche, hat es sich über dem gesamten Planeten verteilt. Auch die Teilung in "Fremde" und "die Unseren" funktioniert nicht mehr."

Swetlana Alexijewitsch
Alexijewitsch: Glaube an die schöne Zuklunft verloren?

Währenddessen blieben die Menschen unwissend, vom totalitären System entmündigt und als "Material" missbraucht. Im Katastrophengebiet wurde Ärzten, Physikern und Militärs verboten, mit der Bevölkerung zu sprechen und "Panik zu sähen". Deshalb mussten sie - in Schutzkleidung, mit klickenden Messgeräten in der Hand - mit ansehen, wie halbnackte Kinder im Sand spielten, und die Bauern die Ernte einfuhren. Hätte man mehr Menschen retten können? Hätte man nicht wesentlich mehr Menschen umsiedeln und nicht besser medizinisch versorgen können, wenn das heutige Weißrussland ein demokratischer Staat wäre?


"Nicht alles auf die Diktatur schieben"

Doch darum geht es Swetlana Alexijewitsch nicht: "Die Menschheit ist auf globale Katastrophen einfach nicht gefasst. In New Orleans waren bis zu anderthalb Millionen Menschen betroffen. In Tschernobyl waren es etwa 5 bis 7 Millionen. Das schafft kein Staat. Natürlich hat das totalitäre Regime eine bestimmte Verantwortung, doch es wäre ein Fehler, alles nur darauf zu schieben. Niemand verfügt heute über Ressourcen, die Menschen in so einem Fall zu schützen. Nur vorbeugen kann man. Mehr nicht."

Buchcover Swetlana Alexijewitsch Eine Chronik der Zukunft
Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.

Swetlana Alexijewitsch lebt seit Jahren in Westeuropa. Bei der Leipziger Buchmesse hat sie im März den Buchpreis zur europäischen Verständigung erhalten. Mit ihrem Buch will sie auch Aspekte ins

Gespräch bringen, über die gerade in den westlichen Demokratien nicht gerne geredet wird, "weil es ja der Konsumgesellschaft an den Kragen gehen würde", wie sie sagt: "Wir haben unseren Glauben an die Zukunft verloren. Diesen Glauben, den Tschechows Helden noch hatten: In Hundert Jahren werden Menschen wunderschön sein und ein wunderschönes Leben haben." Und sie fügt hinzu: "Wir werden vielleicht bessere Autos haben, zum nächsten Stern fliegen können, wie wir heute mit dem Bus fahren. Aber wenn der Mensch sein Weltbild nicht ändert, wird es der Weg zur Selbstausrottung sein."