1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Das Extreme überlebt

21. Juli 2009

Fotografie und Videokunst aus Georgien, Kirgistan, der Ukraine – Künstler aus Osteuropa und Zentralasien verarbeiten die Brüche in der Gesellschaft, sie dokumentieren Veränderung und Stillstand zwischen 1989 und 2009.

https://p.dw.com/p/Itiq
Igor Savchenko: "4.90 – 22"
Identitätssuche in Zentralasien: Igor SavchenkoBild: Igor Savchenko

Es wird ein Herbst des großen Jubiläums werden: der 20. Jahrestag des Mauerfalls, der Wiedervereinigung, der beginnenden Demokratisierung des Ostblocks. Kein Zweifel: All das wird uns in den nächsten Monaten von Politikern als glänzende Erfolgsgeschichte verkauft werden: die Saga von Freiheit und Brüderlichkeit im Hause Europa.

Euphorie? Längst vorbei

Die Wirklichkeit sieht, zumindest in Ländern wie Georgien, Kirgisistan oder Weißrussland, ganz anders aus. Die Brüche und Verwerfungen haben für die meisten Bewohner zu neuen Problemen geführt. Sie reichen von Kriminalität und Niedergang der Industriestädte bis zu erstarktem Nationalismus, staatlicher Gewalt und bewusster Geschichtsfälschung. Der kirgisische Künstler Shailo Djekshenbaev meint: "Die Euphorie liegt schon hinter uns."

Wir stehen am Abgrund

Nach der Wende habe jede ehemalige Sowjetrepublik versucht, eigene Wege zu gehen, eine neue Wirklichkeit aufzubauen. Damals herrschte die Hoffnung, dass früher oder später eine positive Entwicklung einsetzen würde. Aber das Gegenteil geschah: "Wir in Kirgisistan sind jetzt ganz unten. Wir stehen am Abgrund. Vielleicht braucht man das, um eines Tages einen Sprung nach vorn zu machen. Aber viele intelligente Menschen, die im Land etwas ändern könnten, sind heute arbeitslos. Und diejenigen, die in Machtpositionen sitzen, machen alles falsch."

Djekshenbaev ist einer von sechzehn Fotokünstlern, die jetzt in der Berliner Akademie der Künste Zeugnis ablegen von den letzten zwanzig Jahren seit dem Mauerfall - und das durchaus kritisch. Die Kamera ist ein wunderbarer Seismograph einer Entwicklung, die keineswegs zu mehr Fortschritt und Freiheit führt: das zeigt die Ausstellung "Bewegte Welt - Erzählte Zeit" bis zum 13. September in der Berliner Akademie der Künste. Das Goethe-Institut hat Foto- und Videokünstler aus Deutschland und sieben Ländern, die alle einmal zur Sowjetunion gehörten, zu einer bestürzenden Schau eingeladen.

Bewegte Welt 1 Flash-Galerie
Shailo Djekshenbaev: "Perestroika"Bild: Shailo Djekshenbaev

Balancieren im Chaos

Für die unerfreuliche, desorientierende Gegenwart hat Djehshenbaev ein wunderbares Bild gefunden. Es sind große Schwarz-Weiß-Aufnahmen von aufgebrochenem Asphalt, am zentralen Platz der Hauptstadt Bischkek. Wie die Eisschollen auf dem berühmten Gemälde von Caspar David Friedrich staksen die Asphalttrümmer in den Himmel. Menschen mit Mänteln und Aktenkoffern, winzig vor diesem Hintergrund, versuchen sich einen Weg zu bahnen. Doch nirgendwo scheint es weiterzugehen. Es sind großartige Aufnahmen, Metaphern eines Staates, in dem nichts mehr geht und in dem jeder versucht, sich irgendwie durch das Chaos zu balancieren.

Aber wie soll das gehen in dieser Region Osteuropa/Zentralasien, in der immer noch die alten sowjetischen Strukturen die Macht angeben? In der Menschenleben letztlich wenig zählen - wie zum Beispiel in Georgien. Die Fotografin Irina Abzhandadze zeigt Porträts von jungen Leuten, die ermordet wurden - ohne dass sich irgend jemand für das Schicksal dieser Menschen interessierte, geschweige denn für die Aufdeckung der Gewalttaten: "Die Fotos sind mein Protest gegen alles, was im Land passiert ist. Einmal ist eine Freundin von mir ums Leben gekommen, da habe ich nachgeforscht warum, aber niemand wollte etwas davon wissen. Dann habe ich von anderen Fällen gehört, ich bin in die Familien gegangen. Meine Waffe ist die Fotokamera. Das ist mein Protest und meine Position."

Familienporträts in der Diktatur


Bewegte Welt 4
Erbossyn Meldibekov / Nurbossyn Oris: "Familienalbum"Bild: Erbossyn Meldibekov / Nurbossyn Oris

Kunst in Osteuropa und Zentralasien begleitet die politischen und sozialen Umwälzungen und findet dabei manchmal eine überraschende Formensprache. Die Fotokamera zeigt Veränderungen - oder aber den Stillstand. Zum Beispiel die Familienporträts von Erbossyn Meldibekov aus Kasachstan. Früher war es üblich, dass sich Familien zu besonderen Feierlichkeiten vor Statuen und Standbildern von Lenin oder Marx ablichten ließen. Heute stehen die Familien immer noch vor fast identischen Monumenten - doch nur der Sockel ist identisch geblieben, die Köpfe oder Statuen wurden ausgetauscht, meist zugunsten einer Figur aus der eigenen lokalen Geschichte und deren Nationalhelden.

Die georgische Kuratorin Nino Chogoshvili kommentiert: "Es ist sehr viel passiert in den letzten Jahren. Wir haben viel überlebt, auch Extreme überlebt. Zum Beispiel diese ganzen Änderungen von Regierungen, Kriegen, ökonomische, gesellschaftliche Krisen in knapper Zeit. Natürlich reagiert die Kunstszene auf das alles.“

Königsdramen der Macht


Bewegte Welt 6
Koka Ramishvili: Still aus dem Video "Change"Bild: Koka Ramishvili

Da es kein Zentrum für moderne Kunst gibt, brauche man Zeit, um die georgische Kunst zu entdecken, in Ateliers und Werkstätten. International bekannt ist immerhin der Künstler Koka Ramishvili, der den georgischen Pavillon in Venedig bestückt hat. Er hat ein Video von der Machtübergabe des früheren Präsidenten Schewardnadse an den jetzigen Machthaber Saakaschwili bearbeitet - und das in absoluter Zeitlupe. Wie unter dem Mikroskop wird jede Bewegung deutlich, wie ein entferntes Königsdrama von Shakespeare in Super-Slow-Motion, ein bizarres Kräftespiel, dem man in jeder Zehntelsekunde beiwohnen kann. So langsam, so zäh kann der Übergang von einer Regierung zur nächsten erscheinen. Dem Künstler aber geht es noch um etwas anderes. Er betont, die Geheimdienste aller Länder sähen sich ebenfalls Videos in Zeitlupe an, um unliebsame Personen genau ins Visier zu nehmen und Rückschlüsse daraus zu ziehen.

"Ich verneige mich gen Osten, ich blicke nach Westen"

Die zahlreichen Widersprüche bringt auch der Künstler Talgat Asyrankulov aus Kirgisistan auf den Punkt, in seinem Video: "Ich verneige mich gen Osten, ich blicke nach Westen." Asyrankulov kniet in muslimischer Gebetshaltung Richtung Osten, aber dann macht er plötzlich einen Kopfstand und blickt in die andere Richtung - nach Westen. Bleibt die Hoffnung, dass die politischen Polaritäten die neuen Staaten Zentralasiens und Osteuropas nicht zerreißen.

Autor: Werner Bloch
Redaktion: Elena Singer