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"Wir müssen die Eltern mit in die Schule nehmen!"

Was bedeuten die Ergebnisse von PISA 2003 aus Pädagogensicht? Norbert Hocke, stellvertretender Vorsitzender der Lehrergewerkschaft GEW, beantwortet diese und andere Fragen im DW-Interview.

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Norbert Hocke (52), früher Leiter einer Kindertagesstätte und inzwischen stellvertretender GEW-ChefBild: GEW

DW-WORLD: PISA II bescheinigt den deutschen Schülern wieder nur Mittelmaß. Das fällt natürlich auch auf die Lehrer zurück. Wie gehen Sie als Vertreter der Pädagogen damit um?

Norbert Hocke: In den anderen Ländern, die untersucht wurden, ist das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Lehrern anders. Die Lehrer werden hoch geschätzt, und in den letzten Jahren hat man dort festgestellt, dass die Bildungsressource nur dann gestärkt werden kann, wenn man mit den Lehrern anders umgeht als bei uns.

Das heißt also, die Lehrer in Deutschland haben nicht die Position, die sie sich in der öffentlichen Wahrnehmung wünschen?

Ja, vielleicht waren es nicht nur die Lehrer. Bildung wurde allgemein in den vergangenen Jahren als Ländersache abgetan. Hier konnten sich die Parteien profilieren oder auch nicht. Das hat das Ergebnis deutlich sichtbar gemacht. Hier überließ man die Schulen sich selbst und hat versucht, mit den Kultusbehörden irgendetwas auf den Weg zu bringen, was aus unsrer Geschichte her ja irgendwann einmal geklappt hat. Aber jetzt, wo wir die Zukunft insgesamt vorbereiten müssen, muss das Thema den Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetztungen gestellt werden.

PISA hat gezeigt, dass Deutschland zu den Staaten mit den grössten Unterschieden bei den Bildungschancen gehört. Wie wichtig ist dieser Aspekt aus Ihrer Sicht?

Das ist einer der entscheidenen Aspekte. Wir müssen versuchen, hier die sozialen Hintergründe stärker als Ausgangspunkt für Bildungschancen und -karrieren von Kindern und Jugendlichen zu nehmen. Wir müssen deutlich die Eltern und die anderen gesellschaftlichen Gruppierungen mit in die Schule nehmen und mit ihnen gemeinsam die Lernwelten von Kindern und Jugendlichen gestalten.

Immerhin, PISA II hat gezeigt, dass es voran geht -allerdings in kleinen Schritten. In anderen Ländern wie zum Beispiel in Polen scheint es schneller zu gehen. Warum?

Es geht erstmals bei uns voran, bei den Kindern und Jugendlichen, die beim letzten Mal schon vorne lagen. Und es geht nicht voran, bei denen, die schon beim letzten Test schlecht abgeschnitten haben. Das ist ein alarmierendes Zeichen, weil sich die Gesellschaft anscheind mit einem Viertel Versagern zufrrieden gibt und diese scheinbar auch zu akzeptieren beginnt. In Polen ist man andere Reformen angegangen. Man hat dort das Schulsystem und die Lehrerfortbildung sowie die Bedingungen für Lehrer anders gestaltet.

Wie sehen sie die Zukunft? Ist Deutschland in Sachen Bildung auf einem guten Weg?

Deutschland muss sich endlich wachrütteln, um einen anderen Weg einzuschlagen. Wir brauchen möglichst schnell eine Unterstüzung der Lehrer vor Ort, gerade für die sozial Schwachen. Wir brauchen Teamarbeit in den Schulen, wir müssen Rahmenbedingungen für die Lehrer verändern, damit sie Hausbesuche machen können, damit sie Fortbildungen unternehmen können. Und wir müssen hier auch insgesamt die Gliederung des Schulsystems Stück für Stück überwinden, um Ungerechtigkeiten bei den Schülerinnen und Schüler und Jugendlichen loszuwerden.

(Das Gespräch wurde am 7.12.2004 geführt.)