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"Wir sind alle ein bisschen Utopisten"

Barbara Garde17. März 2006

Siegfried Lenz gehört mit Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser zu den prägenden Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur. Geboren wurde er am 17. März 1926 in Ostpreußen. Ein Porträt zum 80. Geburtstag.

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Siegfried Lenz (Archivbild)Bild: dpa

"Ich habe früh festgestellt, dass, wenn man schreibend leben möchte, dazu Sitzfleisch gehört. Nicht nur Inspiration, sondern Sitzfleisch, Starrsinn, Ausdauer - übrigens Qualitäten, die auch Goethe festgestellt hat."

Genialität hält er für überschätzt, er setzt lieber auf Handwerk, ist ein Meister der klar gegliederten Sprache und bekennender Vertreter des konventionellen chronologischen Erzählstils - "Das Leben verläuft chronologisch, warum sollte es in einem Roman dann anders sein?".

Ernest Hemingway ist sein literarisches Vorbild, Willy Brandt sein politischer Hoffnungsträger. Mit ihm reiste Siegfried Lenz 1970 nach Warschau zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags. Die Aufarbeitung und Überwindung der nazi-deutschen Verbrechen war sein großes Anliegen, die Verantwortung des Einzelnen für sich und seine

Zeit sein beherrschendes Thema.

Die schwierige Deutschstunde

Lenz ist ein Schriftsteller mit hohen moralischen Prinzipien. Literatur ist für ihn ein kollektives Gedächtnis. Als gelernter Journalist versteht er sich als Chronist - immer solidarisch mit den Machtlosen und gleichzeitig immer kritisch mit den schwachen Mitläufern, die sich, wie der Polizeimeister Jepsen in der 1968 erschienen "Deutschstunde" den "Freuden der Pflicht" hingeben.

"Macht nichts, sagte mein Vater, ich muss Anzeige erstatten diesmal. - Und du weißt, was du tust? - fragte der Maler. - Meine Pflicht, sagte mein Vater, und mehr brauchte er nicht zu sagen, um Max Ludwig Nansen, der bisher sorglos und ziemlich gelassen mit seinem abendlichen Besuch gesprochen hatte, der vielleicht sogar erwogen hatte, ihm einen Genever anzubieten, zu verändern. Der Maler nahm die Pfeife aus dem Mund. Er schloss die Augen. Er lehnte sich hochaufgerichtet an einen Schrank, gab sich keine Mühe, den Ausdruck von Erbitterung und Geringschätzung zu verbergen, der langsam auf seinem Gesicht entstand. Gut, sagte er leise, wenn du glaubst, dass man seine Pflicht tun muss, dann sage ich dir das Gegenteil: Man muss etwas tun, das gegen die Pflicht verstößt. Pflicht, das ist für mich nur blinde Anmaßung. Es ist unvermeidlich, dass man etwas tut, was sie nicht verlangt."

Ein Verfechter der Langsamkeit

Siegfried Lenz gehört nicht nur zu den klassischen Nachkriegsautoren. Er ist auch durchaus ein Kritiker der Zeitläufe - ohne jemals der Aktualität hinterher zu laufen: In "Der Mann im Strom" von 1957 setzte er sich mit den Problemen des Altwerdens in der Konsum- und Leistungsgesellschaft auseinander, in "Brot und Spiele" stellte er Glanz und Elend der schon 1959 nicht mehr heilen Sportwelt dar. "Das Vorbild" beleuchtete kritisch die bundesrepublikanische Wirklichkeit der 1970er-Jahre. Hörspiele, Theaterstücke und ein Kinderbuch entstanden. Und immer wieder wunderbare Erzählungen und Kurzgeschichten mit bewegenden und witzigen Figuren.

Siegfried Lenz glaubt an die Macht des geschriebenen Wortes. Und so wie sein Mitstreiter Günter Grass auf den Fortschritt der Schnecke setzt, so vertraut auch Lenz politisch wie literarisch der stetig fortschreitenden Langsamkeit.

"Wir sind alle ein bisschen Utopisten und können, wenn wir schreiben, natürlich nur vertrauen auf die ungeheuer langwierige, langsame, aber vor allem unkalkulierbare Wirkung von Literatur. Und ich glaube schon, dass unsere gemeinsamen Anstrengungen von allen Kollegen, die wir schreiben, dazu ausreicht, vielleicht nicht gerade große spektakuläre Gegenmodelle zu dem jetzigen Zustand der Welt zu errichten - das gewiss nicht - aber doch Korrekturen anzubringen, Augen zu öffnen, bloß zu stellen, zu enthüllen, wie Sartre es sagt. Literatur handelt, indem sie enthüllt."

Siegfried Lenz hat viele Preise in seinem langen Schriftstellerleben entgegen genommen. Darunter den Goethe-Preis, den Thomas-Mann-Preis und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Im Jahr 2000 erhielt er im Alter von 71 Jahren den Weinheimer Literaturpreis, den einzigen deutschen Preis, den eine minderjährige Jury vergibt.

Auch wenn es heute still um den 80-Jährigen geworden ist, sein Rang als einer der großen Erzähler der deutschen Gegenwartsliteratur bleibt bestehen.