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"Wir werden kein Wunder-Staat mehr sein"

13. Januar 2003

- Tschechiens Parlament wählt einen neuen Staatspräsidenten

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Köln, 13.1.2003, DW-radio, Vladimir Müller

Am Mittwoch (15.1.) wählt das tschechische Parlament einen neuen Staatspräsidenten. Die zweite Amtszeit Václav Havels geht Anfang Februar zu Ende. Ein drittes Mal kann der bekannte Schriftsteller und Präsident Tschechiens nicht mehr kandidieren. Wer sein Nachfolger wird, ist auch kurz vor der Wahl nicht klar. Und kaum jemand in Prag rechnet damit, dass die Wahl bereits in der ersten Runde entschieden wird. Vladimir Müller mit Einzelheiten.

"Es ist schwer, für das Amt einen entsprechenden Kandidaten zu finden, weil dieses Amt hier einen 'monarchistischen Charakter' hat. Es entstand die Vorstellung, der Präsident sei kein gewöhnlicher Politiker, sondern immer eine außergewöhnliche Persönlichkeit."

Dies ist das Dilemma der tschechischen Präsidentenwahl, erklärt der Prager Politologe Bohumil Dolezal. Einen zweiten Havel wird es nicht geben. Ein ähnlich kometenhafter Aufstieg - vom ausgestoßenen Dissidenten und Schriftsteller zum vor allem im Ausland gefeierten Staatsoberhaupt - ist unter den heutigen demokratischen Verhältnissen in Tschechien nicht mehr denkbar. Darüber hinaus kann der Politologe Dolezal einem - wie er sagt - 'PR-Präsidenten' wie Havel nicht mehr viel abgewinnen:

"Ich glaube nicht, dass es für ein kleines Land das Wichtigste ist. Zugegeben, es ist eine Art Hinweis, eine Art Werbung für dieses Land."

Leise Kritik an Havel - sowohl in der politischen Klasse Tschechiens als auch in der Bevölkerung - nahm in den vergangenen Jahren ständig zu. Es ist ja auch nicht einfach, jemand zu mögen, der so anders ist als man selbst. In einem Land, in dem sich die meisten Tschechen in den 1970er und 1980er Jahren mit den kommunistischen Machthabern arrangiert hatten, gehörte Havel zu den Wenigen, die offen gegen das Regime zu Felde zogen. Dafür rächte sich der Staatsapparat. Man setzte Havel permanenten Repressalien aus, und der Menschen- und Bürgerrechtler aus Prag verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis. Doch heute wird der Politiker Havel offen kritisiert:

"Seine Politik war etwas ambivalent. Er hätte über den Parteien stehen sollen. Dabei polarisierte er in den letzten zehn Jahren die politischen Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite stand Havel mit seinen Leuten und auf der anderen Seite der einstige Premierminister Vaclav Klaus."

Und der will es jetzt seinem Rivalen zeigen. Klaus tritt als Kandidat der oppositionellen Bürgerpartei ODS in der Wahl um Havels Nachfolge auf. Neuesten Umfragen zufolge hätte der immer noch populäre Thatcher-Anhänger und Euro-Skeptiker Klaus beste Chancen zu gewinnen, dürfte das Volk den künftigen Präsidenten direkt wählen.

"Seine Popularität verdankt Klaus der Tatsache, dass er die 'Kapitalisierung des Sozialismus' erfand. Es war die Idee eines rasanten Wandels. Eine recht schlichte Theorie, die deshalb auch verdächtig war. Vielen imponierte sie aber."

Unter den Parlamentsabgeordneten, die über die Wahl entscheiden, hätte aber Klaus inzwischen auch in den eigenen Reihen so viele Gegner, dass seine Wahl in der ersten Runde ziemlich unwahrscheinlich ist. Aber auch keiner der übrigen Kandidaten hat im ersten Wahlgang echte Chancen, die erforderliche Mehrheit zu erreichen.

"Zurzeit sieht es so aus, dass kein Kandidat im ersten Wahlgang die nötigen Stimmen erhält, um Präsident zu werden."

Das liegt zum einen am Wahlgesetz. Zum anderen daran, dass vier Parteien, darunter auch beide Koalitionsparteien, ihre eigenen Kandidaten ins Rennen schicken. Neben Klaus gelten noch zwei andere Politiker als chancenreich.

Ex-Justizminister Jaroslav Bures für die regierenden Sozialdemokraten gehört allerdings nicht zu den Favoriten. Der auch unter den Tschechen weitgehend

unbekannte Beamte ist nur eine Verlegenheitslösung nach innerparteilichen Fraktionskämpfen. Ähnlich wie Klaus kann sich Bures nicht einmal der Stimmen aller seiner Abgeordneten sicher sein.

Denn in der stärksten Regierungspartei hält sich noch ein weiterer Kandidat bereit: Milos Zeman, bis Juni 2002 Tschechiens umstrittener Ministerpräsident. Zeman wurde durch die diplomatischen Verstimmungen mit Deutschland bekannt, und er verfügt in der Partei noch immer über viele Anhänger. Man rechnet damit, dass Zeman in der zweiten Runde der Präsidentenwahl einsteigt, um als 'Retter in der Not' zu erscheinen.

Keine angenehme Vorstellung für Ministerpräsident Vladimir Spidla, der seinen Parteigenossen Zeman auch in der Zukunft lieber im Ruhestand sehen möchte. So soll Spidla tschechischen Zeitungsberichten zufolge bereits die Parole ausgegeben haben: Einen Kompromisskandidaten wählen!

Der hieße dann Petr Pithart, Senatspräsident und Kandidat der mitregierenden Christdemokraten. Der einstige Reformkommunist und Dissident - im politischen Leben seit der Wende 1989 dabei - gilt im Gegensatz zu Klaus und Zeman als Mann des Ausgleichs, von dem keine Gefahr ausgeht, selbstherrlich Politik zu betreiben.

Ob Pithart, Zeman oder Klaus, der 'monarchistische Charakter' des Präsidentenamtes in Prag ist Geschichte. Der Wunsch des Prager Politologen Bohumil Dolezal und mit ihm vieler seiner Landsleute wird auf jeden Fall in Erfüllung gehen:

"Ich würde mich freuen, wenn sich der Charakter der Amtsführung ändern würde. Wenn man den Präsidenten als einen Verfassungsfaktor betrachten würde, als den höchsten Beamten im Staat, nicht als einen Führer, nicht als einen Propheten oder Heiligen. Wir werden kein Wunder-Staat mehr sein mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit an der Spitze. Doch dieser Eindruck war ohnehin falsch." (fp)