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"Wir wollen ihre Dummheit aufdecken"

Aygül Cizmecioglu30. Mai 2006

Immer häufiger gehen in Deutschland antisemitische Übergriffe nicht nur von Neonazis aus, sondern auch von radikalen Islamisten. Dagegen zieht jetzt das Pilotprojekt Youth Leader zu Felde.

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Auf dem PausenhofBild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Der Unterricht an der Walter-Gropius-Schule in Berlin-Neukölln ist längst zu Ende, die Schüler spielen Fußball oder essen Eis. Während ihre Klassenkameraden draußen auf dem Hof ihre Freizeit genießen, sitzen Yasmina, Ezgi, Sarah und Tugba freiwillig in einem stickigen Klassenzimmer. Sie blättern in Geschichtsbüchern und diskutieren. An der Tafel stehen rechtsradikale Slogans wie "Den Holocaust gab es nie", die sie immer wieder durchstreichen. Direkt daneben schreiben sie Fakten zur Judenverfolgung auf und heften Fotos von Holocaust-Opfern und Konzentrationslagern an. Seit einem Jahr treffen sich die vier Mädchen einmal in der Woche und lassen sich zu so genannten Youth Leadern ausbilden.

Jugenliche vermitteln glaubhafter

Muslime in Deutschland Frau mit Computer p178
Pauken gegen AntisemitismusBild: AP

Immer häufiger beobachten Pädagogen an Schulen antisemitistische Tendenzen bei Migrantenkindern, die im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt stehen. Um diesen Tendenzen zu begegnen, sollen nun nach dem Vorbild der Konfliktlotsen Youth-Leader ausgebildet werden. Eine kleine Gruppe von Schülern wird durch ein zweijähriges Training befähigt, ihr Wissen über Antisemitismus an Gleichaltrige weiterzugeben. Dieses angloamerikanische Konzept basiert auf der Erkenntnis, dass Jugendliche im annähernd gleichen Alter Lerninhalte oft glaubhafter und emotionaler vermitteln können als Lehrer.

Die 17-jährige Deutsch-Algerierin Yasmina ist von Anfang an bei den Youth Leadern und sie hat gelernt, dass auch Antisemitismus eine Form von Rassismus ist: "Denn wenn Nazis zum Beispiel sagen 'Du Jude', dann werden die am nächsten Tag auch sagen 'Du Kanake'. Wir wollen etwas dagegen tun. Wir wollen diese Menschen mit Argumenten platt machen: So weit argumentieren, bis wir merken: Sie haben ja gar keinen Hintergrund. Wir wollen eigentlich ihre Dummheit aufdecken."

Religion als Brücke

Rütli-Hauptschule in Berlin
Problembezirk Neukölln in BerlinBild: picture-alliance/ dpa

Youth Leader ist ein deutschlandweites Projekt, gestartet bisher an fünf Schulen rund um Berlin und Potsdam. Isabell Enzenbach ist eine der Projektleiterinnen in Deutschland. In ihrem Fokus stehen besonders Schüler muslimischen Glaubens, wie an der Walter-Gropius-Schule in Berlin-Neukölln: "Die wussten zuerst nicht, was Antisemitismus überhaupt ist und sind eher aus Neugier gekommen. Die Religion hat sich dann als tragfähige Brücke erwiesen, denn vieles ist ihnen bekannt vorgekommen. Koscher essen – die Muslime ernähren sich ähnlich, nur bei ihnen heißt das Halal. Ähnliches gilt bei Bekleidungsvorschriften und Gottesdiensten. Die muslimischen Jugendlichen konnten das daher von Anfang an leicht verstehen."

Alle Mädchen im Kurs tragen modische Shirts, Hüfthosen und knallbunte Schuhe. Ein Kopftuch legen sie sich höchstens in der Moschee um oder als modisches Accessoire. Dennoch bezeichnen sie sich als gläubig und mit dem Islam eng verbunden. Weil sie das Gefühl kennen, aufgrund ihrer Religion angegriffen zu werden, sind sie nun auch sensibler für antijüdische Sprüche. Und die sind offenbar gerade unter ihren Altersgenossen weit verbreitet - etwa in Form von Judenwitzen auf dem Schulhof oder im Bus. Genau gegen diese alltägliche Ignoranz kämpfen sie nun an.

Mit Argumenten gegen Antisemitismus

Unterricht türkische Schülerinnen mit Kopftuch im Schulzentrum in Bremen
"Wir wollen ihre Dummheit aufdecken"Bild: AP

Sie lernen Fakten über den Holocaust. Neben Argumentationstraining und Rollenspielen besuchen sie jüdische Gemeinden, suchen das Gespräch mit Holocaust-Überlebenden und Gleichaltrigen jüdischen Glaubens. Die meisten Eltern unterstützen das Engagement ihrer Töchter. Doch es gab am Anfang auch skeptische Töne, wie etwa von Ezgis Mutter. "Sie fand das nicht so gut, dass ich hier mitmache. Sie selbst hat auch schon mal antisemitische Äußerungen gemacht und den Juden die Schuld für den Nahost-Konflikt vorgeworfen", erinnert sich Ezgis. Mit Argumenten konnte sie schließlich ihre Mutter überzeugen, den Konflikt auch von der anderen Perspektive zu betrachten. Mittlerweile sei ihre Mutter auch feinfühliger in Bezug auf solche Äußerungen geworden, findet Ezgis.

Das sind Erfolgserlebnisse für die jungen Youth Leaderinnen. In ein paar Wochen werden Ezgi und Yasmina erstmals selbst als Trainerinnen gefordert sein. Sie haben Projekttage an ihrer Schule für die unteren Klassen organisiert. Ihre Argumente gegen Antisemitismus wollen sie weitergeben, ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit schaffen. Denn damit, so finden sie, könne man nicht früh genug anfangen.