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Wirrwarr: Das deutsche Steuerrecht

Karl Zawadzky16. November 2003

Alle Vorurteile sind berechtigt: Das deutsche Steuerrecht ist ungerecht, undurchschaubar und über alle Maßen kompliziert und bürokratisch. Selbst Fachleuten fällt der Durchblick schwer.

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Was bleibt nach dem Steuerabzug noch übrig?Bild: AP

Ungerechtigkeit und Undurchschaubarkeit verführen geradezu zum Betrug. Dabei ist Betrug gar nicht nötig, wie vor Jahren der Hamburger Immobilienmultimillionär und FDP-Landespolitiker Robert Vogel demonstrierte. Indem er alle legalen Möglichkeiten bis zur Neige nutzte, galt er beim Finanzamt als plötzlich verarmt und beantragte konsequenterweise Sozialhilfe. Die freilich bekam er nicht, sondern dafür eine Einladung vom damaligen Finanzsenator Horst Gobrecht. Beide stimmten überein, dass von einer leistungsgerechten Besteuerung keine Rede mehr sein könne und eine große Steuerreform dringend erforderlich sei.

Unzählige Gesetze

Darauf warten die Steuerzahler noch immer. Alle Reformbemühungen haben das deutsche Steuerrecht nicht besser gemacht, sondern mehr und mehr kompliziert. In der letzten Legislaturperiode hat der Deutsche Bundestag auf dem Gebiet des Steuerrechts nicht weniger als 84 Gesetze beschlossen, durch die 58 Steuergesetze teils mehrfach geändert wurden.

Hinzu kamen 33 Rechtsverordnungen und 629 Verwaltungsvorschriften des Bundesfinanzministeriums. Grundlage des derzeitigen Steuersystems sind 118 Gesetze und 87 Rechtsverordnungen. Das ginge ja noch. Doch zu beachten sind auch die 1042 gültigen Verordnungen im Bundessteuerblatt mit vorrangiger Bedeutung sowie 1193 zeitlich befristete Hinweise für die Anwendung des Steuerrechts.

Unzählige Formulare

Für die Erklärung und Erhebung der Steuern des Bundes, der Länder und Gemeinden sind 185 Formulare nötig. Sowohl den Steuerberatern als auch den Finanzbeamten fällt der Durchblick immer schwerer. Kein Wunder, dass in großer Zahl Steuererklärungen nicht mit einer Erstattung oder Nachzahlung erledigt werden, sondern bei den Finanzgerichten landen. Die sind mit jeder Klage im Durchschnitt anderthalb Jahre beschäftigt. Mancher Rechtsstreit erledigt sich dann durch Tod.

Rund 450 Milliarden Euro zieht der Staat pro Jahr an Steuern ein. Doch die Besteuerung richtet sich in der Realität nicht nach Einkommenshöhe und Leistungsfähigkeit, sondern nach den Fähigkeiten des Steuerberaters und der Dreistigkeit beim Ausfüllen der Erklärung. Hinzu kommt das Versagen des Gesetzgebers. Nach der letzten großen Steueränderung waren die meisten deutschen Großkonzerne über Jahre hinweg nicht nur von der Köperschaftsteuer faktisch befreit, sondern bekamen auch noch Geld zurückerstattet.

Unzählige Ungereimtheiten

Auch die Einkommensteuer steckt voller Ungereimtheiten. Vor allem kann von sozialstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit keine Rede mehr sein. Im Standardwerk Steuerrecht des renommierten Professors Klaus Tipke heißt es lapidar: "Die einstige 'Königin der Steuern' ist zu einer Dummensteuer degeneriert, die jene am stärksten trifft, die am schlechtesten informiert oder beraten sind oder die der Besteuerung wie zum Beispiel die Lohnsteuerzahler am wenigsten ausweichen können. Sogenannte Steuerkünstler, die alle Gestaltungsmöglichkeiten kennen und nutzen, kommen am billigsten davon. Die Mehrwertsteuer wird nicht nur durch Schwarzarbeit unterlaufen, sondern von cleveren Ganoven zum Milliardenbetrug genutzt.

Fazit: "Deutschland braucht vorrangig nicht niedrigere, sondern bessere Steuern." Der das sagt, muss es wissen: Klaus Regling zählt zu jenen, die sich im deutschen Steuerrecht wirklich auskennen. Er war Spitzenbeamter des Bundesfinanzministeriums und ist nun Generaldirektor der EU-Kommission. Reglings Urteil über das deutsche Steuerrecht: komplex, teuer, ineffizient, ungerecht und fehlgeleitet.