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Wirtschaftsweise sehen starkes Wachstum

10. November 2010

Die Wirtschaftsweisen setzen sich an die Spitze der Konjunkturoptimisten. In ihrem Jahresgutachten sagen die fünf Mitglieder des Sachverständigenrates ein stärkeres Wachstum voraus als die Bundesregierung.

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Wirtschaftsweise und Regierende bei der Übergabe des Gutachtens 2010 (Foto: pa/dpa)
Wirtschaftsweise und Regierende bei der Übergabe des Gutachtens 2010Bild: picture alliance/dpa

International kaum wettbewerbsfähig, unfähig zu durchgreifenden Reformen? Vor einem knappen Jahrzehnt galt Deutschland noch als kranker Mann Europas. Heute präsentiert sich die Bundesrepublik in bester Verfassung. Ihr Weg aus der Krise wird weltweit mit Bewunderung zur Kenntnis genommen, insbesondere die vergleichsweise stabile Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, ein Gremium von Wirtschaftswissenschaftlern, das der Bundesregierung beratend zur Seite steht, bestätigt den positiven Trend. Um 3,7 Prozent werde die Wirtschaft in diesem Jahr wachsen, im kommenden Jahr sollen es immer noch 2,2 Prozent sein.

Bei aller Euphorie, so meint der Sachverständige Christoph Schmidt, dürfe man aber nicht vergessen, dass die deutsche Wirtschaft im Krisenjahr 2009 noch desaströs um fast fünf Prozent geschrumpft sei. Zurzeit sei die Wirtschaftsleistung erst dort, wo sie zur Jahreswende 2006/2007 war. "Wir werden bis Ende nächsten Jahres brauchen, um den Vorkrisenstand wieder zu erreichen", so Schmidt. Bisher sei man davon ausgegangen, dass dies erst um 2014 zu schaffen sei.

Ziel: weniger Abhängigkeit vom Export

Peter Bofinger, Professor für Volkswirtschaft in Würzburg (Foto: dpa)
Peter Bofinger, Professor für Volkswirtschaft in WürzburgBild: dpa

Von einem Wirtschaftswunder wollen die Sachverständigen trotz der positiven Nachrichten nicht sprechen - zumal es international zu viele Risiken gibt, die den Aufschwung wieder zunichte machen können, allen voran die Krise der europäischen Währung und die Geldpolitik der USA. Wichtig für Deutschland sei, sich unabhängiger von der Außenwirtschaft zu machen. Auf den Export als Konjunkturtreiber, so sagt Wirtschaftsexperte Peter Bofinger, könne man sich angesichts des Sparkurses angeschlagener EU-Staaten nicht länger verlassen. "Die Länder, die uns in den letzten zehn Jahren Impulse gegeben haben, haben massive Verschuldungsprobleme." Konkret nannte Bofinger die süd- und osteuropäischen Staaten, die USA und Irland. Das deutsche Wachstumsmodell der letzten zehn Jahre, auf den Export zu setzen, funktioniere daher nicht mehr. "Wenn wir mehr Wachstum haben wollen, dann muss es aus dem Binnenbereich kommen", so Bofinger.

Und um den soll es im kommenden Jahr gar nicht so schlecht bestellt sein, glaubt der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Wolfgang Franz. Bei einem Lohnanstieg von durchschnittlich 2,8 Prozent würden die Bürger wieder deutlich mehr Geld ausgeben. Wenn die Angst vor Arbeitsplatzverlust abnehme, würde der Konsum zusätzlich gefördert. Hinzu komme eine Ausweitung der privaten Investitionstätigkeit. "Die wird durch historisch einmalig niedrige Zinsen bestärkt", so Franz.

Keine Steuersenkungen

Wolfgang Wiegard, Professor für Volkswirtschaft in Regensburg (Foto: AP)
Wolfgang Wiegard, Professor für Volkswirtschaft in RegensburgBild: AP

Zusätzliche Maßnahmen, die den Bürgern mehr Geld in die Portemonnaies spülen würden, nennen die Wirtschaftsweisen nicht. Im Gegenteil. Die viel diskutierten und von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag versprochenen Steuersenkungen lehnen sie kategorisch ab. "Wir sind der Meinung, dass für nennenswerte Steuerentlastungen in dieser Legislaturperiode - und auch über weite Zeiträume in der kommenden Legislaturperiode - eigentlich kein Spielraum vorhanden ist", sagt der Wirtschaftsweise Wolfgang Wiegard. Schließlich müsse sich die Bundesregierung an das Grundgesetz halten. Ab 2011 ist die sogenannte Schuldenbremse im Grundgesetz wirksam, die die Nettokreditaufnahme des Bundes auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzt. Ab 2016 ist sogar ein ausgeglichener Haushalt gesetzlich vorgeschrieben.

Doch nicht nur die Haushaltskonsolidierung soll nach Ansicht des Sachverständigenrats im Blick behalten werden, sondern auch der Reformkurs. Änderungen beim Arbeitslosengeld II oder der Rente mit 67 lehnen die Wirtschaftsweisen ab. Wie es Tradition ist, übergab der Ratsvorsitzende Wolfgang Franz das Gutachten persönlich an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die sagte, sie freue sich darüber, dass die Lage so viel besser aussehe als im vergangenen Jahr. Außerdem wertete die Kanzlerin die Empfehlungen der Wirtschaftsweisen als Ansporn für ihre Regierung. "Wir werden in dieser Woche eine Gesundheitsreform verabschieden, die zum ersten Mal eine stärkere Entkoppelung der Arbeitskosten und der Sozialversicherungsbeiträge beinhaltet. Wir brauchen auf dem Pfad Ermutigung", so Merkel. Sie sei daher "ganz zufrieden", wenn die Wirtschaftsweisen den Kurs ihrer Regierung "tatkräftig unterstützen" könnten.

Das 415 Seiten starke Gutachten trägt in diesem Jahr übrigens den Titel: "Chancen für einen stabilen Aufschwung". Was mehr können sich Politiker wünschen?

Autorin: Sabine Kinkartz

Redaktion: Andreas Becker