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WM 1978 – zu Gast bei Diktatoren

Anne Herrberg12. Juni 2012

Wochenlang wurde wegen der Menschenrechtslage in der Ukraine über einen Boykott der Fußball-EM diskutiert. Menschenrechte wurden auch 1978 vom WM-Gastgeber Argentinien mit Füßen getreten.

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Bundestrainer Helmut Schön bei der WM 1974 (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Grau und schwer hängen die Wolken an jenem 1. Juni 1978 über Buenos Aires, doch das frisch renovierte Stadion Monumental im Norden der Stadt glänzt in den argentinischen Nationalfarben himmelblau und weiß. Als Juntachef General Jorge Videla die Fußball-Weltmeisterschaft 1978 mit erhabener Stimme eröffnet, bricht frenetischer Jubel aus. Der General spricht von einem Tag des Jubels, des Friedens und der Freiheit. Fähnchen werden geschwenkt – darauf steht "Somos derechos y humanos" – wir sind rechtschaffen und menschlich. 

Sport und Mord

Zynische Worte, denn die millionenschwere Show verschleiert eine grausame Diktatur. Mit einem Putsch riss das argentinische Militär am 14. März 1976 die Macht an sich und errichtete unter General Jorge Rafael Videla ein widerwärtiges Regime: Zehntausende Menschen wurden ermordet oder sind spurlos verschwunden. Über 30.000 Menschen – darunter besonders viele Studenten – kommen bis zum Ende der Diktatur 1983 ums Leben. Den Großteil der Gräueltaten verübte die Junta in ihren ersten zwei Jahren aus – also zwischen 1976 und dem WM Jahr 1978.

Jorge Rafael Videla (Foto: ddp images/AP)
Diktator Jorge Rafael Videla - über 30.000 Menschen starben unter seiner HerrschaftBild: AP

Nur zwei Kilometer vom Monumentalstadion von Buenos Aires entfernt, liegt die Marineschule ESMA. Dort befand sich während der Militärherrschaft eines der grauenvollsten Geheimgefängnisse der Welt. Bei günstigem Wind drang der Torjubel bis in die Folterzellen hinunter. "Die Fußball-Weltmeisterschaft 1978 wurden von den argentinischen Militärs instrumentalisiert, wie schon die Olympischen Spiele 1936 von den Nazis", erklärte Humberto Ball, ein Überlebender der ESMA später.

Zu Gast bei Diktatoren

Schon 1977 hatte Amnesty International über schwere Menschenrechtsverbrechen in Argentinien berichtet. Unter dem Motto "Fußball ja – Folter nein" forderten die Menschenrechtler den damaligen Titelverteidiger Deutschland auf, sich für politische Gefangene einzusetzen.

Frau mit Plakat ihres Kindes (Foto: AP)
Sie protestierten gegen die Diktatur - doch Unterstützung seitens der WM-Teilnehmer gab es keine nennenswerteBild: AP

Sepp Maier stand 1978 bei der WM im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Auf die Frage, warum sich seine Mannschaft nicht für die Menschenrechtslage im WM-Gastgeberland stark gemacht habe meinte der Torhüter mit dünner Stimme: Er sei nicht der Überzeugung, dass dies etwas bringen würde. "Nachher werden wir dort auch verhaftet." Die Mehrheit der deutschen Elf und des Deutschen Fußballbundes (DFB) wehrte sich damals gegen jegliche kritische Fragen. Ihre Begründung: Sport ist Sport, Politik ist Politik.  

Fußball ja – Folter nein

"Wir fühlen uns nicht dafür zuständig, als Sportverband politische Systeme zu begutachten, anzugreifen oder zu rechtfertigen", rechtfertigte sich der damalige Pressechef des Deutschen Fußballbundes, Wilfried Gerhardt, gegenüber Journalisten. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Denn der Kalte Krieg war in vollem Gange und so geriet die Kontroverse um die WM sehr wohl zwischen ideologische Fronten – schließlich hatte sich die argentinische Junta offiziell dem Kampf gegen den Kommunismus verschrieben. Und das WM-Gastgeberland war zudem ein hervorragender Wirtschaftspartner des Westens: Deutschland lieferte Argentinien neben Fahrzeugen vor allem Waffen und Atomtechnologie.

Hans Krankl und Hansi Müller auf dem Spielfeld (Foto: dpa)
Die deutsche Nationalelf 1978: "Sport ist Sport - Politik ist Politk"Bild: picture-alliance/dpa

Der deutsche Nationalspieler Berti Vogts schwärmte 1978 von Argentinien. Es sei ein "Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen". Auf die Nachfrage eines deutschen Journalisten, ob ihn die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien nicht bedrückten, antwortete der damalige Mannschaftskapitän ziemlich kaltschnäuzig: "Wenn die Weltmeisterschaft in der Sowjetunion stattfinden würde, würden sie dann die selben Fragen in ihrem Interview stellen?"

Eklat 1978: DFB-Präsident empfängt Nazi-Offizier

Die Fifa-Führung bekundete ohnehin ihre Sympathie für den argentinischen Diktatoren Videla und sein Regime. Der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger machte schließlich den Skandal komplett: Er hatte ohne Scheu im Trainingslager Hans-Ulrich Rudel empfangen. Rudel war ein hochdekorierter Offizier des Zweiten Weltkriegs, ein Held des NS-Regimes, der auch nach dem Krieg seinem "Führer" die Treue hielt. 1948 hatte sich Rudel nach Südamerika abgesetzt und war dort zum Berater etlicher Militärdiktatoren geworden.

Plakat WM 78 - Koalition gegen Straflosigkeit
Plakat WM 78 - Koalition gegen Straflosigkeit

Auch was die fußballerische Leistung anging hat sich Deutschland in Argentinien nicht gerade mit Ruhm bekleckert: Die WM 1978 ist in Deutschland als "Schmach von Córdoba" bekannt. In der Nordargentinischen Stadt flog die deutsche Mannschaft aus dem Turnier. Sie verlor 2:3 gegen Österreich und musste bereits nach der Zwischenrunde nach Hause fahren – und das als amtierender Weltmeister.

Debatte in der Ukraine hält Argentinier Spiegel vor

Das argentinische Team erfüllte sich hingegen einen Traum: Weltmeister im eigenen Land. Mittlerweile gilt es aber als offensichtlich, dass beim argentinischen 6:0-Sieg im Halbfinale gegen Peru Gelder geflossen sind. Doch der WM-Titel habe den Militärs einige Jahre mehr an der Macht gesichert, meint Eduardo Sacheri, argentinischer Autor und Verfasser von Fußballkolumnen: "Die argentinische Gesellschaft war selbst völlig blind vor Patriotismus. Aber mehr Kritik durch die ausländischen Fußballverbände hätte den Druck auf das Regime erhöht und durchaus etwas bewirken können."

Die aktuelle Debatte um den EM-Gastgeber Ukraine wird heute auch im fußballverrückten Argentinien verfolgt. Und diese Diskussion halte, wie der Autor Sacheri meint, vielen Argentiniern einen Spiegel vor. "Die zivile Unterstützung der Militärs – das ist ein Kapitel, dem wir Argentinier uns bis heute nicht gestellt haben."