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Forschung trifft auf Praxis

Susanne Dickel28. März 2014

Viel hilft viel, sagt ein Sprichwort. In der Bildungsforschung stimmt das nicht unbedingt. Es gibt viel Forschung, in der Praxis kommt davon aber wenig an. Diesem Problem stellt sich die Tagung "Bildungsforschung 2020".

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Ein Schüler meldet sich im Unterricht (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Es wurde noch nie so viel über Bildung geredet wie heute", sagt Hans-Jürgen Kuhn von der Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung. Die öffentliche Wahrnehmung täuscht ein wenig darüber hinweg, dass wenig von den wissenschaftlichen Ideen und Erkenntnissen in der Praxis ankommt - vor allem bei Lehrern, Erziehern und Eltern. Auch weil viele Bildungsforscher es nicht gewohnt sind, mit Nicht-Wissenschaftlern über ihre Forschung zu sprechen.

Auf der Tagung "Bildungsforschung 2020", an der Kuhn teilnimmt, feilt man an Lösungsansätzen. Hier in Berlin haben sich Forscher mit Schulleitern, Mitarbeitern von Kultusministerien, Schulämtern und Stadtverwaltungen getroffen. Hier sprechen sie über Probleme, Veränderungsmöglichkeiten und neue Projekte.

Hans-Jürgen Kuhn zum Beispiel schlägt eine "Arbeitsstelle Wissenstransfer" vor. Deren Mitarbeiter könnten Webseiten betreuen, die sich an Lehrer und Eltern richten und versuchen, die Erkenntnisse aus der Forschung für alle verständlich zu beschreiben.

Blick auf das Plenum bei der Tagung Bildungsforschung 2020 in Berlin am 27.03.14 (Foto: Peter Himsel / BMBF)
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat Vorträge und Workshops initiiertBild: Peter Himsel/BMBF

Vielfalt als Chance

Bei der Tagung geht es auch um ganz konkrete Themen. Ingrid Gogolin berichtet etwa über ihre Forschung zur Mehrsprachigkeit. "Im Grunde ist jeder Schüler heute mehrsprachig", sagt sie. Schon allein, weil alle Englisch lernen. Verschiedene Sprachkenntnisse würden auch die Wahrnehmung beeinflussen, erklärt Gogolin und gibt ein Beispiel. "Stellen Sie sich vor, Sie sind in China in einem Restaurant und hören den Menschen an den anderen Tischen zu. Wenn Sie kein Chinesisch verstehen, können Sie wahrscheinlich nicht mal sagen, ob die sich streiten oder nett zueinander sind."

Wer mehrere Sprachen versteht, hört anders zu. Das kann in der Schule auch zu Missverständnissen führen. Denn der Unterricht ist vor allem auf Kinder ausgerichtet, die Deutsch sprechen. Kinder, die mit einer anderen Muttersprache aufwachsen, haben oft Schwierigkeiten, den Worten des Lehrers zu folgen.

"Wir brauchen eine Bildungssprache, also die Version von Sprache, mit der man zum Beispiel Matheaufgaben oder den Physikunterricht gut versteht", sagt Gogolin. Das muss aber nicht unbedingt allein Deutsch sein. Wenn ein Kind mehrere Sprachen spricht, sollte es auch darin gefördert werden. "Dann erzielen wir die besten Ergebnisse."

Ingrid Gogolin, Professorin an der Universität Hamburg, auf der Tagung Bildungsforschung 2020 in Berlin am 27.03.14 (Foto: DW/Elke Wild)
Ingrid Gogolin ist Professorin an der Universität HamburgBild: DW/E. Wild

Fehlende Verzahnung

Doch auch sie muss zugeben, dass die Forschung zu dem Thema in Deutschland etwas hinterher hinkt. Mehrsprachigkeit im Unterricht ist hierzulande zwar in aller Munde, aber es gibt nur eine Handvoll Wissenschaftler die sich seit Jahren fundiert damit auseinandersetzen. Auch das Thema Inklusion kommt erst langsam in der Forschung an. Kein Wunder, dass die Defizite auch in der Praxis zu spüren sind. In Europa zählt Deutschland bei der Integration behinderter Schüler in Regelschulen zu den Schlusslichtern.

Staatssekretär Thomas Rachel vom Bundesministerium für Bildung und Forschung kennt das Problem und verspricht, das Thema in Zukunft zu einem Schwerpunkt der Bildungsforschung zu machen. Politische Lippenbekenntnisse oder ernsthafter Veränderungswille? Das Grundproblem ist vor allem die fehlende Verzahnung. Viele Wissenschaftler im Bildungsbereich forschen in ihrem Elfenbeinturm vor sich hin. Der Austausch mit anderen Forschungsprojekten ist eher die Ausnahme. Die Umsetzung in den praktischen Alltag noch seltener. Absurd, wenn man die gesellschaftliche Tragweite von Bildungsthemen vor Augen führt.

Tagung Bildungsforschung 2020 in Berlin: Zettel aus der Ideensammlung eines Workshops (Foto: DW/Elke Wild)
Wissenschaftliche Erkenntnisse finden selten den Weg in SchulenBild: DW/E. Wild

Das wird vor allem in puncto Chancengleichheit deutlich. Manche Kinder in Deutschland haben einfach Pech: Wenn ihre Eltern nicht auf ein Gymnasium gegangen sind, ist auch ihre Chance geringer, das Abitur zu machen. Das ist spätestens seit der PISA-Studie vor 14 Jahren bekannt. Viel geändert hat sich trotzdem nicht.

Der Weg eines Bildungsverlierers

Es gibt immer noch Bildungsverlierer wie Nino. In seiner Kindheit wusste seine Mutter zwar, dass das abendliche Vorlesen, den Sohn motivieren und sein Interesse für Bücher wecken würde. Aber abends, nach der Arbeit in der Wäscherei, war sie einfach zu müde dafür. In den Familien von Ninos Schulfreunden sah es ähnlich aus. Seine Wissenslücken in Mathe, aber auch in anderen Fächern wurden über die Jahre immer größer. Als die Schule vorbei war, reichte es nicht für einen Ausbildungsplatz. Die Arbeitsagentur vermittelte ihn für Maßnahmen, doch die hatten nichts mit seinen Interessen zu tun. Heute ist Nino auf staatliche Unterstützung angewiesen, fühlt sich nutzlos.

So realistisch sein Werdegang auch klingen mag, Nino ist eine fiktive Figur. Elke Wild, Professorin an der Universität Bielefeld, und Uta Quasthoff, Professorin der Technischen Universität Dortmund, haben ihn erfunden. An Ninos Beispiel wollen die beiden Wissenschaftlerinnen aufzeigen, welche familiären und schulischen Prozesse Bildungsdefizite fördern.

Bildungsforscherin Elke Wild auf der Tagung Bildungsforschung 2020 in Berlin am 27.03.14 (Foto: DW/Elke Wild)
Bildungsforscherin Elke Wild macht die Probleme an einer fiktiven Biografie deutlichBild: DW/E. Wild

Theoretisch gibt es viele Möglichkeiten, Kindern wie Nino zu helfen: "Es gibt ein breites Angebot. Manchmal kümmern sich um ein Kind sowohl die Eltern als auch Lehrer, Sozialarbeiter, Schulpsychologen, Therapeuten, Logopäden - alle gleichzeitig", zählt Wild auf. Darin liege manchmal auch das Problem. "Sie informieren sich nicht gegenseitig." Dadurch bleiben Synergie-Effekte aus.

Viel hilft nicht viel

Außerdem seien auch Eltern in sozial schwachen Familien durchaus bemüht, ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen, wie das fiktive Beispiel von Nino zeige. Die größte Hürde sei oftmals die persönliche Überforderung und manchmal das Unwissen über vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten. Und so bleibt die systematische Hilfe in vielen Fällen einfach aus.

Dagegen schlägt Elke Wild sogenannte Interventionsketten vor. Dabei sollen Menschen aus verschiedenen Projekten und Bereichen zusammenarbeiten, zum Beispiel der Kindergarten mit der Schule. Die Bildungsforscherin ist zuversichtlich, dass sich die Chancengerechtigkeit dadurch verbessern wird. "Es gibt gute Initiativen, es braucht nur mehr Zeit", erklärt sie. Wichtig sei, dass Forscher und Praktiker miteinander ins Gespräch kommen. Diese Bildungstagung könnte dafür ein erster Schritt sein.