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"Wo war Gottes Barmherzigkeit?"

Christoph Strack24. Juli 2016

Rund 300.000 Jugendliche aus aller Welt besuchen derzeit die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Manfred Deselaers arbeitet als Seelsorger seit über 25 Jahren in Oswiecim. Gedanken zum Schweigen, zum Bösen, zur Gottesfrage.

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Erinnerungsmarsch in Ausschwitz-Birkenau (Foto: picture-alliance/dpa/G. Momot)
Bild: picture-alliance/dpa/G. Momot

Über eine halbe Million Jugendliche aus aller Welt versammeln sich in den kommenden Tagen zum 31. Weltjugendtag der katholischen Kirche, der am 26. Juli in Krakau beginnt. Rund 300.000 von ihnen wollen das nahegelegene ehemalige deutsche Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau besuchen. Dort lebt Manfred Deselaers, Priester aus Aachen, seit über 25 Jahren. Der 61-Jährige arbeitet im Ort Oswiecim am "Zentrum für Dialog und Gebet", einem Begegnungszentrum in der Nähe des schier Unfassbaren. Im Interview der Deutschen Welle äußert er sich zur anstehenden Rekordzahl an Besuchern in Auschwitz und zur Visite von Papst Franziskus.

DW: Pfarrer Deselaers, zum Weltjugendtag kommen hunderttausende Jugendliche nach Krakau. Auch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau erwartet zigtausend junge Leute. Wie sollten sie auf diesen Ort zugehen?

Manfred Deselaers: Ja, sehr viele Gruppen wollen die Gelegenheit nutzen, die Gedenkstätte zu besuchen. Wir rechnen mit 30.000 Menschen am Tag, also ungefähr 300.000 binnen zehn Tagen. Um eine solche Menge zu bewältigen, ist die Besuchsmöglichkeit verringert. Die eigentliche Ausstellung in den Blocks, den Häusern ist nicht zugänglich. Dafür gibt es Info-Blätter und Schautafeln mit großen Fotos und Informationen. Sonst könnte man so viele Besucher überhaupt nicht bewältigen.

Macht ein solch kurzer Besuch Sinn?

In jedem Fall Ja. Der Gang durch diesen authentischen Ort, wo all das wirklich passiert ist, berührt immer. Auch Papst Franziskus betont ja die Atmosphäre der Stille und Besinnung an diesem Ort. Und die Jugendlichen spüren und erfahren auch, was dort passiert ist. Aber deswegen ist natürlich gute Vor- und Nachbereitung wichtig. Deshalb haben wir für die Teilnehmenden unter www.sdm2016.cdim.pl eigens eine Seite eingerichtet. An diesem Ort stellen sich, auch spirituell, die Fragen nach dem Bösen, nach Schuld und Vergebung. Wozu ist der Mensch fähig? Wozu sind Nationen fähig? Worin besteht unsere Verantwortung? Und: Wo war Gott? Wo war Gott damals, und wo ist er heute? Diese Fragen liegen hier in der Luft und berühren die Herzen.

Ist "Auschwitz" für Jugendliche von anderen Kontinenten überhaupt ein Begriff?

Unterschätzen Sie nicht die Bedeutung, die Auschwitz weltweit hat. Das Gedenken an den 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vor eineinhalb Jahren wurde live fast auf der ganzen Welt übertragen. Kaum eine Zeitung hat das nicht erwähnt. Auschwitz ist heute ein Thema weltweit. Ein Beispiel: In Argentinien, der Heimat des Papstes, war es nicht nur für ihn, sondern für die gesamte Kirche ein wichtiges Thema, weil es dort eine relativ starke jüdische Gemeinde mit vielen Überlebenden des Holocaust gibt. Auschwitz ist heute nicht mehr nur ein europäisches Thema. Wozu sind wir fähig? Welchen Abgrund gibt es?…Das berührt die Menschen weltweit.

Priester Manfred Deselaers in Oswiecim (Foto: picture alliance/Kyodo)
Priester Manfred Deselaers kämpft seit Jahren für AufklärungBild: picture alliance/Kyodo

Der bekannteste Pilger wird am Freitag Papst Franziskus sein. Er hat schon angekündigt, in Auschwitz einfach still sein zu wollen, zu schweigen.

Man muss immer anfangen mit schweigen, man muss hören auf die Stimme der Erde. Das sagt man so in Polen. Man muss sich erschüttern lassen von diesem Ort. Das erschlägt erst einmal die Sprache. Papst Johannes Paul II. war aufgewachsen im Schatten von Auschwitz. Viele seiner Freunde wurden dort ermordet. Das ehemalige Konzentrationslager lag dann in seiner Diözese. So war er vorbereitet, als er als Papst nach Auschwitz kam und dort sprach. Papst Benedikt hatte als Deutscher natürlich einen biografischen Bezug zu dieser Geschichte. Aber er wollte schon am liebsten schweigen, und er ist auch schweigend durch das ganze Stammlager Auschwitz I. gegangen. Als er dann gegen Ende seines Besuchs als Papst sprechen musste, sagte er: "An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen".

Ich empfinde es so, dass sich jetzt bei Franziskus dieses Schweigen durchsetzt. Aus dieser noch viel größeren Entfernung - Franziskus kommt ja zum ersten Mal hierher - ist es noch schwieriger, die richtigen Worte zu finden. Gerade angesichts der Größe des Leids. Ich freue mich darüber, dass Journalisten nun über das Schweigen schreiben müssen. Wann tun sie das schon. Für den wachsenden Massentourismus hier vor Ort macht das noch mal deutlich, das es so etwas ist wie ein heiliger Ort. Man muss sich selbst zurücknehmen. Dafür ist Schweigen der richtige Ausdruck, weil Schweigen fürs Hören öffnet.

Papst Johannes Paul II in Auschwitz (Foto: AP Photo/Horst Faas)
Papst Johannes Paul II bei seinem Besuch im KZ AuschwitzBild: AP

Die Jugendlichen sollten also in Auschwitz-Birkenau auch schweigen?

Ja, wir hoffen, dass diese Atmosphäre für die Jugendlichen spürbar wird.

Der Leitbegriff von Franziskus lautet "Barmherzigkeit". Sie ist auch Motto des Weltjugendtages im katholischen "Jahr der Barmherzigkeit". Passt das überhaupt zu Auschwitz?

Die erste Frage, die sich hier auftut, lautet: Wo war Gott in Auschwitz? Erst recht: Wo war der barmherzige Gott? Wo war Gottes Barmherzigkeit in Auschwitz? Und wir müssen uns hüten, mit zu schnellen Antworten die Wunde in der Gottesbeziehung zu schnell zu übergehen, sie nicht ernst zu nehmen.

Nun leben Sie dort seit gut 25 Jahren. Wie nehmen Sie diese Frage ernst?

Die Ideologie, die Auschwitz gebaut hat, die Macher von Auschwitz, sie haben ausdrücklich die Lehre von der Barmherzigkeit des Christentums abgelehnt. Ihnen ging es um Stärke in der Kultur des Kampfes. Gegen das Schwache. Das beantwortet nicht alle Fragen. Denn es ist ja doch passiert im sogenannten christlichen Europa. Und daraus ergibt sich das Bemühen um die Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses in den vergangenen 50 Jahren. Aber - und auch das treibt mich um - es gibt auch Zeichen der Barmherzigkeit in Auschwitz. Das sind all die Zeugnisse von Menschen, die sich als Häftlinge, als Opfer in diesem System der Unmenschlichkeit nicht zu Unmenschen haben machen lassen. Die menschlich geblieben sind.

Symbol dafür ist Pater Maximilian Kolbe geworden. Seine sozusagen sein Leben abschließende Tat war ein Akt der Liebe für einen Mithäftling. Und letztlich hatte nicht die SS das letzte Wort, sondern die Güte dieses Paters. Johannes Paul II. hat das Beispiel von Maximilian Kolbe später sehr oft benutzt, um zu sagen: Wir müssen auf das Böse mit dem Guten antworten. Ähnliches gilt für Schwester Faustina (1905-1938), diese Heilige der Barmherzigkeit aus Krakau. In diesem Sinne ist die Barmherzigkeit Gottes auch Antwort auf Auschwitz.

Hat Sie das im Kern bei der Arbeit in Oswiecim, nahe zum Lager Auschwitz-Birkenau geprägt?

In so vielen Jahren und vielen Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen ist mir das immer tiefer und auch klarer geworden. Diese Zeugen sind ja sozusagen das Wichtigste. Sie sind, wenn man sie ernst nimmt und sie sich ernst genommen fühlen, oft sehr herzlich. Und die Atmosphäre, die sich dann entwickelt ist eine sehr warme, menschliche. Das heißt: immer mit großer Behutsamkeit miteinander umzugehen, das ist für mich Barmherzigkeit. Mir ist sehr wichtig, dass die Jugendlichen und überhaupt alle, die hierher kommen, nicht von hier weggehen in tiefer Depression. Nein. Sie sollten hier weggehen mit einem positiven Auftrag: Glaubt daran, dass sich Liebe lohnt. Dass sich Barmherzigkeit lohnt. Glaubt daran, dass, auch wenn es viel kostet, es nicht umsonst ist, füreinander da zu sein. Das ist der Auftrag, den ich spüre von den Überlebenden, von der Stimme dieser Erde. Die Welt menschlicher und barmherziger zu machen. Hoffentlich spüren das die jungen Leute bei der Besichtigung hier in ihrem Herzen.

Manfred Deselaers, Priester aus Aachen, lebt seit über 25 Jahren in der Nähe von Auschwitz. Der 61-Jährige arbeitet im Ort Oswiecim dem Begegnungszentrum "Zentrum für Dialog und Gebet".