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Wort wird Schrift

8. September 2009

Es gab mal Zeiten, da waren Analphabeten nichts Besonderes, da gab es noch gar keine Schrift. Aber dann begann man vor einigen tausend Jahren damit, gesprochene Worte in Zeichen zu fassen. Aus praktischen Gründen.

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Keilschrift aus der Zeit 2900 v. Chr. (Foto: dpa)
Keilschrift aus MesopotamienBild: picture-alliance/ dpa

Für Kinder ist es vor allem der Zugang zu spannenden Geschichten. Deshalb hören und lesen sie gerne Märchen und Erzählungen. Bei der Entstehung der Schrift ging es jedoch zunächst nicht darum, Fantasie in poetische Worte zu verwandeln. Am Anfang stand schlicht der praktische Nutzen. Es ging um Wirtschaftliches und darum, dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Die frühesten Schriftzeugnisse drehen sich deshalb um den Handel. Geschäftsabschlüsse, Preise und Absprachen sollten protokolliert und dokumentiert werden.

Lesen kam vor dem Schreiben

Chinesin liest ein Buch im Park (Foto: AP)
Chinesische Schriftzeichen gehörten zu den ersten weltweitBild: AP

Lesen und Schreiben sind grundlegende Kulturtechniken. Entstanden sind sie vor fünf- bis siebentausend Jahren im so genannten Zweistromland, dem heutigen Irak, außerdem im Indus-Gebiet, in China - und wie die moderne Forschung zeigt - auch in Südosteuropa. Sprachwissenschaftler Peter Stein aus Lüneburg hat ein grundlegendes Werk über die Geschichte des Schreibens und Lesens verfasst. Er betont, dass die Menschen schon lange bevor es die Schrift gab in einem speziellen Sinne "lesen" konnten. Sternbilder und die Eingeweide von Opfertieren wurden gedeutet. Sie gaben Antworten auf die Fragen nach Regen, Dürre oder ob der Tod bevorsteht. Spezialisten, vor allem Priester, "lasen" aus den Rissen, die Knochen bekamen, wenn man sie ins Feuer warf, den Schicksalsweg der Bevölkerung. Techniken, die sich bis ins römische Reich hielten.

Schrift als Wissensspeicher

Die weitere Verbreitung der Schrift bis 1000 vor Christi bedeutete einen großen kulturellen Entwicklungssprung. Bislang mussten Erfahrungen immer von Mund zu Mund, von Person zu Person weitergegeben werden und gingen deshalb auch oft verloren. "Die Schrift ist ein viel mächtigerer, modern gesprochen, wesentlich größerer Speicher, in dem das Wissen bewahrt werden konnte," beschreibt Peter Stein den großen Vorteil des Schreibens. "Schrift wurde ein Werkzeug für gesellschaftliche Organisation und den Handel. Außerdem war es ein Herrschaftsinstrument. Die großen Weltreligionen sind Buchreligionen, die auf heiligen Texten beruhen."

Bibel, Koran und Tora (Foto: AP)
Schriften von drei Weltreligionen: Bibel, Koran und ToraBild: AP / bilderbox.com / Fotomontage DW

Wissen wurde so zu einer Macht, die über Jahrhunderte erhalten werden konnte. Die heutige Welt ist ohne Schrift nicht zu denken. Vom Einkauf im Supermarkt bis zum Buchen des Sommerurlaubs, alles ist mit Lesen und Schreiben verbunden. Zunehmend ist unser Alltag jedoch von Bildern umstellt. Viele Prognosen von Soziologen und Sprachwissenschaftlern sagen deshalb schon einen modernen Analphabetismus und damit eine große kulturelle Abwärtsbewegung voraus, befördert durch die schillernd bunte Welt des Internets. Peter Stein glaubt nicht an diese düstere Zukunft.

Auch das Internet braucht Sprache

"Ohne Alphabetisiertheit ist Teilhabe an der modernen Gesellschaft überhaupt nicht möglich," sagt der Forscher und fügt noch zwei weitere Argumente hinzu, warum wir nicht in eine Kultur der Schriftlosigkeit rutschen werden. Das Internet sei randvoll mit Schrift und Schriftkultur. Man müsse lesen und schreiben können, wenn man richtig mit dem Internet und Computer umgehen wolle. Und nicht zuletzt ist die Archivierung des Wissens auf Papier immer noch dauerhafter als die digitale Kopie. Außerdem sei die Sprache anpassungsfähig. Eine Feindschaft zwischen Schrift und Bild habe es in der gesamten Geschichte der Schriftkultur nicht gegeben. "Das Medium Schrift hat es bis in die Gegenwart verstanden, Verbindungen einzugehen mit den Bildmedien, das gilt für Illustrationen, für das Fernsehen, und das gilt auch für das Internet."

Autor: Günther Birkenstock

Redaktion: Marlis Schaum