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Wovon Ukrainer träumen

Tetyana Bondarenko22. Juni 2012

Die Distanz zu Europas wächst eher, als dass sie schrumpft. Viele Künstler sind desillusioniert. Sie hoffen, dass die Ukraine aus eigener Kraft zu einem Land für alle wird - und nicht nur für Oligarchen.

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Menschen, die den Marsch der holländischen Fans zum Stadion in Kharkiv beobachten (Foto: DW/Tetyana Bondarenko)
Bild: DW

Die Haut brennt immer noch von der unerträglich heißen Luft. Doch so langsam umarmt der kühle Abend die ermüdete ukrainische Metropole. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Im Kellerraum eines tristen und unscheinbaren Plattenbaus treffen nach und nach junge Musiker ein. "Sobaky v kosmosi", zu deutsch "Hunde im Weltall" heißt die sechsköpfige Ska-Band. Zusammen mit dem ukrainischen Kultautor Serhii Zhadan ist sie bereits mehrmals in Deutschland aufgetreten. Auch diesmal wollen die Jungs in ihrem Keller-Studio für einen gemeinsamen Auftritt in Berlin üben.

Was dem deutschen Publikum bei den unbeschwerten Musikkompositionen meist entgeht, sind die kritischen sozial-politischen Texte in ukrainischer Sprache. "Das ist eigentlich die Musik der Solidarität, des Kampfes und des Widerstands - politischer Rock sozusagen", erklärt der Dichter Zhadan. "Es ist interessant für uns, ernste gesellschaftlich-politische Themen aufzugreifen. In der Regel ist die ukrainische Musik ziemlich unaggressiv und hat kaum eine soziale Komponente".

Wachsende Distanz zu Europa

Zielscheibe der Lieder Zhadans sind vor allem korrupte Politiker und gewaltbereite Milizbeamte. Auch die Oligarchen, reiche Unternehmer, die in der Ukraine alles bestimmen, werden nicht geschont. Zhadan kritisiert die mangelnde Pressefreiheit und die Käuflichkeit der Medien. All das sind Themen, die die Ukraine in den vergangenen zwei Jahren anscheinend immer weiter von Europa entfernt haben.

Zhadan lebt in Charkiw. In Europa ist die Stadt als Austragungsort der Fußball-Europameisterschaft 2012 bekannt. Sie ist aber auch der Ort, in dem die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko in Haft sitzt. Die ehemalige Regierungschefin wurde nach dem Machtwechsel im Land zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Sie soll ihr Amt beim Aushandeln eines Gasliefervertrages mit Russland missbraucht haben. Ebenfalls zu Haftstrafen wegen angeblicher Korruption wurden mehrere ihrer Minister verurteilt. Ganz Europa diskutierte deshalb im Vorfeld der EM, ob man das Fußballfest in der Ukraine angesichts der offensichtlich politisch motivierten Haftstrafen für mehrere Oppositionelle boykottieren solle.

Kritik von außen erwünscht?

Solche politischen Aufrufe seitens europäischer Politiker kann Serhii Zhadan angesichts der Zustände in seinem Land nachvollziehen. Gleichzeitig betont der Schriftsteller immer wieder, Europa solle begreifen, dass die Politik und die Gesellschaft in der Ukraine verschiedene Dinge seien. Keinesfalls dürfe man die ukrainische Bevölkerung mit dem ukrainischen Präsidenten und seiner Regierung gleichsetzen. Ein Boykott würde dem Land kaum helfen, seine Probleme zu lösen, so Zhadan.

Mit diesen Problemen beschäftigt sich seit über 20 Jahren der ukrainische Menschenrechtler Yevgen Zakharov. Er lebt ebenfalls in Charkiw und setzt sich dort für Menschenrechte und Grundfreiheiten ein. In der Boykott-Diskussion sieht Zakharov durchaus positive Momente. "Zumindest die pro-westlich-orientierten Ukrainer wünschen sich sogar solche Kritik aus Europa, eine klare kritische Stellungnahme zur ukrainischen Regierung und zum ukrainischen Staat. Das ist eines der Mittel, um die Situation im Land zu beeinflussen", betont Zakharov. Denn letztendlich blicke auch die politische Führung der Ukraine, egal welche Partei gerade an der Macht sei, vor allem in Richtung Europa – allein schon aus geschäftlichen Interessen, erklärt Zakharov. Trotzdem werde die EM immense Image-Verluste für die Ukraine verursachen. Die ukrainische Regierung unter Präsident Viktor Janukowitsch demonstriere durch ihre Politik, wie wenig sie von europäischen Werten halte.

Ukrainer müssen Probleme selbst lösen

Diese Werte seien für die Ukrainer wichtig, sagt indes der Schriftsteller Serhii Zhadan. "Viele Ukrainer glauben, das heutige Europa sei das 'Gelobte Land', in dem wir alle aufgenommen, reich, glücklich und selbstgenügsam werden. Ich bin gegen eine solche Idealisierung, gegen die blinde Begeisterung für Euro-Standards und dementsprechend auch gegen eine derartige Sehnsucht nach Europa. Ich habe gar keine Sehnsucht nach Europa, besonders wenn man betrachtet, was zurzeit in der EU geschieht." Die Ukrainer sollten endlich anfangen, ihre Probleme selbst zu lösen, statt auf Hilfe aus Europa zu warten. Darin sind sich der Schriftsteller Serhii Zhadan und der Menschenrechtler Yevgen Zakharov einig. Die Ukrainer müssten nicht nur eine neue Regierung wählen und das ganze korrupte System im Land verändern, sie müssten sich vor allem selbst verändern.

Diese Bereitschaft zur Eigeninitiative gibt es durchaus, insbesondere unter jungen Menschen. Daryna Grebeniuk ist gerade einmal 18 Jahre alt. Sie wirkt noch viel jünger. Daryna ist Aktivistin in der landesweit tätigen NGO "Jugend der Demokratischen Allianz", die sich für mehr Bürgerrechte einsetzt. Die angehende IT-Spezialistin sagt: "Ich sehe meine Zukunft in der Ukraine, aber in einer Ukraine, die wir selbst – meine Organisation und andere Bürgerinitiativen – auf der Grundlage christlich-demokratischer Werte aufbauen werden." Dabei blickt die junge Aktivistin durchaus nach Europa. "Wir möchten schon auf dem gleichen Niveau mit Europa sein. Aber es ist nicht so, dass wir nur vor dem Fenster sitzen und uns beschweren, dass man uns nicht nach Europa herein lässt."

Ihre Aufgabe sieht Daryna Grebeniuk unter anderem darin, die Menschen in der Ukraine über ihre Rechte aufzuklären. Sie informiert beispielsweise Kranke über das gesetzlich garantierte Recht auf spezielle, kostenlose Arzneimittel. Sie will Krankenhäuser dazu bringen, die entsprechenden Medikamente zu verabreichen. Die Ukraine, von der Daryna träumt, ist ein Land für alle Menschen, nicht nur für Oligarchen. Mit diesem Traum steht sie nicht allein.

Ein Lied zum Aufwachen

"Eigentlich sind wir Loser und Außenseiter, aber gerade deswegen können wir sagen, was wir wollen", sagt Serhii Zhadan auf die Frage, ob er denn mit seinen Texten etwas in der ukrainischen Gesellschaft bewirken könne. Auch Zhadan hat eine klare Vorstellung, in welcher Ukraine er leben möchte: "In einem Land ohne Oligarchen, in dem jeder Bürger Rechte und Freiheiten, aber auch Pflichten hat." Also rappt er weiter, voller Wut und Hoffnung zugleich: "Niemanden interessieren Deine Bedürfnisse. Komm Bruderherz, alles hängt von Dir ab!"

Sehnsucht nach Europa: Ukraine # Kultur # 21.06.2012

Die 18-jährige Aktivistin aus Charkiw, Daryna Grebeniuk (Foto: DW/Tetyana Bondarenko)
Die 18-jährige Aktivistin aus Charkiw, Daryna GrebeniukBild: DW
Der ukrainische Menschenrechtler Yevgen Zakharov (Foto: DW/Tetyana Bondarenko)
Der ukrainische Menschenrechtler Yevgen ZakharovBild: DW
Bauarbeiten während der Fußball-EM in Kharkiv( Foto: DW/Tetyana Bondarenko)
EM als Kulisse für Missstände im LandBild: DW
Die Band "Sobaky v kosmosi", Hunde im Weltall, und der Schriftsteller Serhii Zhadan während der Probe im Kharkiver Studio (Foto: DW/Tetyana Bondarenko)
Hunde im Weltall und ein SchriftstellerBild: DW