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Wulff will Bundesregierung zu Sarrazin hören

3. September 2010

In einem einmaligen Schritt hat die Bundesbank bei Bundespräsident Wulff die Entlassung ihres Vorstandsmitglieds Sarrazin beantragt. Vor einer Entscheidung hat Wulff die Bundesregierung um eine Stellungnahme gebeten.

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Thilo Sarrazin bei der Vorstellung seines Buches in Berlin (Foto: AP)
Thilo Sarrazin bei der Vorstellung seines Buches in BerlinBild: AP

Die Bundesbank hofft nach dem Beschluss, Thilo Sarrazin abberufen zu lassen, auf eine schnelle Entscheidung des Bundespräsidenten. Christian Wulff ließ am Freitag (03.09.2010) mitteilen, er habe die Bundesregierung um eine Prüfung der Gründe zur Entlassung Sarrazins gebeten. Der Antrag der Bundesbank sei inzwischen bei ihm eingetroffen.

Einmaliger Vorgang in der Bundesbank-Geschichte

Für die Entlassung eines Bundesbank-Vorstands gibt es bisher keinen Präzedenzfall, denn der Vorgang ist ohne Beispiel in der mehr als 50-jährigen Geschichte der Deutschen Bundesbank. Deshalb ist seit Tagen spekuliert worden, ob nebem dem Bundespräsidenten auch die Regierung eingeschaltet werden muss. Regierungssprecher Steegmanns sagte dazu am Freitag in Berlin, dazu gebe es "noch keine abschließende Erkenntnis". Es könne eine Gegenzeichnungspflicht geben, aber auf welche Weise dies geschehe, müsse das Bundespräsidialamt klären.

Bundesbank-Präsident Axel Weber (Foto: AP)
Bundesbank-Präsident Axel Weber (Archivbild)Bild: AP

Am Donnerstag hatte Bundesbank-Präsident Axel Weber in Frankfurt am Main erklärt, der Antrag des Vorstands an den Bundespräsidenten, Thilo Sarrazin abzuberufen, sei einstimmig erfolgt – in Abwesenheit Sarrazins. Zugleich entzog der Vorstand Sarrazin seine Geschäftsbereiche.

Die Vorstandsmitglieder der Bundesbank werden zwar vom Bund und den Ländern berufen, agieren aber unabhängig. Vor Ablauf ihrer Amtszeit können die Vorstandsmitglieder nach geltendem Recht nur abberufen werden, wenn sie die Voraussetzungen zur Ausübung ihrer Tätigkeit nicht mehr erfüllen, etwa im Falle einer schweren Erkrankung oder bei einer schweren Verfehlung. - Sarrazin wird vorgeworfen, mit seinen Thesen das Ansehen der Bundesbank beschädigt und gegen die Pflicht zur Zurückhaltung eines Vorstandes verstoßen zu haben.

Parteiausschlussverfahren der SPD

Ein Demonstrant in Berlin protestiert gegen Sarrazin (Foto: AP)
Ein Demonstrant in Berlin protestiert gegen SarrazinBild: AP

Sarrazin hatte in den vergangenen Tagen mit Äußerungen über Juden und Muslime bundesweit für Aufregung gesorgt. In seinem am Montag erschienenen Buch "Deutschland schafft sich ab" und in Interviews vertrat das SPD-Mitglied die Ansicht, die Ursachen für eine mangelnde Integration zugewanderter Muslime in Deutschland lägen in der Kultur des Islams. Auf scharfe Kritik stieß insbesondere Sarrazins Äußerung, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen. Die SPD leitete deshalb ein Parteiausschlussverfahren gegen Sarrazin ein. Der Ex-Senator habe "eine rote Linie überschritten“, betonte SPD-Chef Sigmar Gabriel.

Neue Integrationsdebatte

Die Entscheidung der Bundesbank, sich von Sarrazin trennen zu wollen, stieß bei allen Parteien auf Zustimmung. Darüber hinaus werden nach dem heftigen Schlagabtausch über die Thesen Sarrazins in den vergangenen Tagen nun Rufe nach einer sachlichen Auseinandersetzung mit den Integrationsproblemen laut.

Bundespräsident Wulff und seine Frau Bettina vor dem Schloss Bellevue in Berlin (Foto: AP)
Bundespräsident Wulff und seine Frau Bettina vor dem Schloss Bellevue in BerlinBild: AP

Wulff räumte Defizite in der Ausländerpolitik ein. Versäumte Anstrengungen bei der Integration müssten nachgeholt werden. Er wies der Mainzer "Allgemeinen Zeitung" darauf hin, dass die Vielfalt in der Gesellschaft wachse. Eine Trennung in Deutsche und Ausländer werde der Realität immer weniger gerecht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte der türkischen Zeitung "Hürriyet", man müsse "Probleme klar benennen, aber man darf Fortschritte auch nicht verschweigen". Zuwanderer müssten aktiv in die Gesellschaft geholt werden. "Aber in gleicher Weise erwarten wir natürlich, dass sie das auch wollen und sich aktiv darum bemühen."

Zu der Entscheidung der Bundesbank hatte Merkel bereits am Donnerstag mitgeteilt, sie habe "die unabhängige Entscheidung des Bundesbankvorstandes mit großem Respekt zur Kenntnis genommen." Die Kanzlerin hatte dem Bundesbank-Vorstand einen solchen Schritt schon in der vergangenen Woche nahegelegt.

Auch Gabriel begrüßte die geplante Abberufung Sarrazins. Die Entscheidung des Bundesbank-Vorstandes sei konsequent. Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, sprach von einem "eindeutigen Signal gegen die menschenverachtende Diffamierungspolitik von Herrn Sarrazin."

EZB-Präsident "entsetzt"

Unterstützung bekam die Bundesbank auch von der Europäischen Zentralbank. Ihr Präsident Jean-Claude Trichet sagte in Frankfurt am Main, als Bürger sei er "entsetzt" über die Äußerungen Sarrazins. "Als Präsident der Europäischen Zentralbank habe ich volles Vertrauen in die Entscheidungen der Bundesbank.“

Sarrazin war 2009 in den Vorstand der Zentralbank berufen worden, auf Vorschlag der Länder Berlin und Brandenburg. Seine reguläre Amtszeit würde 2014 enden. Bereits im Oktober 2009 waren ihm von seinen Vorstandskollegen ein Teil seiner Kompetenzen entzogen worden. Anlass war ein Interview, in dem Sarrazin die Mehrheit der Türken und Araber in Deutschland als "weder integrationswillig noch integrationsfähig" bezeichnet hatte.

Autor: Michael Wehling (dpa, rtr, apn, epd, afp)
Redaktion: Siegfried Scheithauer/Ursula Kissel

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