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Yassin Musharbash: Radikal

Bettina Marx11. Dezember 2011

Literatur und Realität liegen bisweilen dicht beieinander. Der Politthriller des Berliner Journalisten Yassin Musharbash schildert einen Terroranschlag, der kurz darauf tatsächlich so ähnlich geschah.

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Ein Terroranschlag in Berlin. Opfer ist der prominente muslimische Bundestagsabgeordnete Lutfi Latif. Der aus Ägypten stammende Politiker, dem eine große Karriere vorhergesagt wurde, hatte zuvor Drohbriefe von radikalen Islamisten bekommen, die seinen Säkularismus, seine Modernität und sein Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaat ablehnen. Doch die Spuren des Anschlags führen nicht in die islamistische Szene, sondern in ein islamfeindliches rechtes Milieu mit Verbindungen bis in höchste gesellschaftliche Kreise.

*** Nur zur Rezension des Titels verwenden! *** Buchcover Yassin Musharbash: Radikal

Unvorstellbar? Yassin Musharbash hatte seinen Roman "Radikal", in dem er diese Geschichte entwirft, gerade fertig gestellt, als in Norwegen Anders Behring Breivik seine Mordtaten beging. Plötzlich war in der Realität geschehen, worüber Musharbash in seinem Roman lediglich phantasiert hatte.

Beängstigende Aktualität

Von den Anschlägen in Oslo und auf der Ferieninsel Utoya habe er aus dem Autoradio erfahren, erzählt Musharbash. Sein erster Gedanke sei gewesen, dass es sich dabei um einen islamischen Anschlag handeln müsse. Doch schnell war klar, dass hinter den Mordtaten ein islamophober Norweger steckte.

Attentäter Norwegen Anders Behring Breivik
Ein Einzelfall? Der Attentäter Anders Behring BreivikBild: AP

Als dann das sogenannte Manifest des Mörders im Internet auftauchte, zusammen mit Fotos, die Anders bewaffnet und in Kreuzrittermontur zeigten, sei dies für ihn ein gruseliger Moment gewesen, so Musharbash rückblickend. "Das Buch war damals schon fertig und darin spielen bestimmte Motive eine Rolle, von denen ich angenommen habe, dass sie bei den radikalen Islamhassern tatsächlich zentral sind wie der Kreuzritterkult und der Rückgriff auf Karl Martell."

Terrorexperte und Roman-Autor

Yassin Musharbash ist Terrorexperte bei Spiegel online. Seit Jahren befasst sich der 36-jährige mit Radikalisierungsverläufen bei Muslimen, mit der Entstehung von Gewaltbereitschaft und Terrorismus. Er kennt die einschlägigen Internetseiten, die Droh- und Bekennervideos der Dschihadisten. Er kennt die Karrieren von radikalen Muslimen und Konvertiten. Er weiß, wann der Punkt erreicht ist, an dem es für sie keine Rückkehr mehr gibt, wann sich ihr Weltbild schließt und sie für jede Argumentation unzugänglich werden. Doch diese Muster der Radikalisierung fänden sich genau so auch bei Islamhassern, erklärt Musharbash. Auch sie legten sich Stück um Stück ein geschlossenes Weltbild zu, das letztendlich in die Gewaltbereitschaft führe. Dies zeige zum Beispiel der Mord an der Ägypterin Marwa al-Sherbini, die im Juli 2009 in einem Dresdner Gerichtssaal von einem fanatischen Islamhasser ermordet wurde, nur weil sie Muslimin war. "Solche Taten und solche Täter aber gelten bislang als Ausnahmen, als Einzelfälle", sagt Musharbash.

Auch der Attentäter von Oslo und Utoya war so ein Einzelfall. Oder doch nicht? In seinem Thriller entwirft der Berliner Journalist das Szenario einer geradezu gespenstischen Gruppierung von Islamhassern. Ihre Mitglieder, unter denen Juristen, Wissenschaftler und Politiker sind, treffen sich hoch konspirativ in sogenannten Salons. Sie agitieren gegen muslimische Zuwanderer, sie verüben Anschläge auf Moscheen und sie bereiten sich vor auf den apokalyptischen Kampf zwischen dem Islam und dem "christlichen Abendland", wie sie es nennen.

Kein Schlüsselroman

Dabei sei das Buch kein Schlüsselroman, betont Musharbash. Nur eine einzige Person sei der Wirklichkeit entlehnt. Der Berliner Staatssekretär Enzo Graether. Er ist dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bundesbanker Theo Sarrazin nachempfunden, dessen umstrittenes Buch "Deutschland schafft sich ab" die Argumentation der islamfeindlichen Szene salonfähig gemacht habe.

Yassin Musharbash
Yassin MusharbashBild: Privat

Alle anderen Personen entspringen der Phantasie des Autors. Im Mittelpunkt des Buches stehen die wissenschaftliche Mitarbeiterin des getöteten Abgeordneten Sumaya al-Shami, Migrantin der zweiten Generation und ihr Freund, der Terrorexperte Samuel Sonntag, der sich undercover in die islamophobe Szene einschleicht, sowie die junge Journalistin Merle Schwalb, die recherchiert, wer hinter dem Mord an Lutfi Latif steckt. Daneben ist das Buch bevölkert von Geheimdienstlern und Terrorexperten, von Ermittlern und Journalisten, von Kreuzberger Multi-Kulti und Zehlendorfer Bürgertum. Sie alle werden hineingeworfen in einen Strudel der Ressentiments, der Ängste und Vorurteile, der Gewaltbereitschaft und des Extremismus.

"Radikal" ist ein Thriller von geradezu beängstigender Aktualität, intelligent entworfen, flott und spannend geschrieben. Der Autor, Yassin Musharbash, der einem deutsch-jordanischen Elternhaus entstammt und in Göttingen und Ramallah Arabistik und Politikwissenschaften studiert hat, ist ein ausgewiesener Kenner des islamischen Terrorismus, der schon ein Buch über Al-Qaeda veröffentlicht und den britischen Thriller-Autor John le Carré beraten hat. Er hat viel mit hineingepackt an eigenen Erfahrungen und politischen Beobachtungen. All dies hat er zu einem rasanten Krimi verwoben, der gewürzt ist mit Berliner Lokalkolorit, Nachdenklichkeit und einer reichlichen Prise Humor. Man kann nur hoffen, dass Musharbash auch in Zukunft neben seiner journalistischen Arbeit Zeit finden wird für das leichtere und ansprechende Genre des Polit-Thrillers.


Yassin Musharbash
Radikal
Kiepenheuer & Witsch 2011
ISBN 978-3462043482
EUR 14,99