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Zahlen bis der Arzt kommt

Michael Brückner11. Oktober 2002

Die Finanzierung des Gesundheitssystems ist ein Dauerthema in Deutschland. Wie versuchen andere Europäer, dem Problem Herr zu werden?

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Vor allem die Kosten für Arzneimittel bereiten den Krankenkassen KopfschmerzenBild: Bilderbox

Die Zahlen sprechen für sich: 1970 zogen die deutschen Krankenkassen noch Beiträge in Höhe von 8,2 Prozent eines Bruttolohns ein. 2002 sind es durchschnittlich 14 Prozent. Und die Tendenz steigt weiter. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) musste vor der Wahl zugeben, dass die gesetzlichen Krankenkassen in der ersten Jahreshälfte ein Defizit von 2,4 Milliarden Euro angehäuft haben.

Die Ministerin hofft, dass der Milliardenverlust im zweiten Halbjahr noch ausgeglichen werden kann. Arbeitgeberpräsident Hundt ist sicher nicht der einzige, dem der Glaube daran fehlt. Er rechnet ínzwischen mit einer Erhöhung des Beitragsatzes auf durchschnittlich 14,3 Prozent. Und die dadurch steigenden Lohnnebenkosten sind Gift für den Arbeitsmarkt.

Rezeptfreie Maßnahmen

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt spricht während einer Pressekonferenz in Berlin am Dienstag, 22. Januar 2002, bei der sie den Journalisten einen Rückblick über das erste Jahr ihrer Tätigkeit und einen Ausblick zur Zukunft des Gesundheitswesens abgibt.Bild: AP

Spar-Maßnahmen gab es in den letzten Jahren reichlich: Zuzahlungen der Patienten für Arzneimittel und Zahnersatz wurden erhöht und wieder gesenkt. Die jetzige Gesundheitsministerin Schmidt (SPD) schaffte die von ihrer Vorgängerin Andrea Fischer (Grüne) eingeführte Arzneimittelbudgetierung wieder ab. Seitdem steigen die Kosten für Arzneimittel, allein in der ersten Jahreshälfte 2002 um fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Aufgrund der demographischen Entwicklung in den meisten Ländern Europas halten manche sogar das Solidarprinzip an sich langfristig für nicht mehr zu retten: Es gibt immer weniger gesunde Erwerbstätige, während die Zahl der über 65-Jährigen unverhältnismäßig ansteigt. Immer weniger Arbeitnehmer müssen daher immer mehr, von Natur aus krankeitsanfälligere und pflegeintensivere Rentner über ihre Beiträge mitversorgen. Finanzieren heute noch zwei Jüngere jeweils einen Älteren mit, so könnte das Verhältnis in Deutschland nach Hochrechnungen von Sozialexperten in dreißig Jahren eins zu eins sein.

Der Staat - ein unzuverlässiger Partner

Folgt man jedoch den Ergebnissen einer Untersuchung des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, ist ein beitragsfinanziertes Gesundheitssystem - wie das deutsche - steuerfinanzierten Systemen vorzuziehen. In allen Ländern, die ihren Gesundheitsdienst aus Steuermitteln finanzieren, wie Finnland, Großbritannien oder auch Australien, gebe es lange Wartezeiten für ärztliche Dienstleistungen.

Besonders in Großbritannien müssen Patienten selbst auf dringend notwendige Operationen mitunter monatelang warten. Rigmar Osterkamp vom ifo-Institut führt dies auf die chronische Unterfinanzierung der Krankenhäuser in direkt staatlich verwalteten Systemen zurück. Der Staat ist als Partner offensichtlich unzuverlässiger als die durch Beiträge finanzierten Sozialversicherungen. Der Vorsitzende des britischen Ärztebundes, Sir Anthony Grabham, drückte das in einer Rede vor dem diesjährigen britischen Ärztetag so aus: "Sie wissen, wie das ist in der Politik. Plötzlich gibt es eine unvorhergesehene Krise im Bildungswesen oder sonstwo, und schon wird das versprochene Geld dahin umgeleitet."

Radikale Österreicher und Schweizer

Die Dauerkrise der Krankenkassen brachte die österreichische Regierung auf einen eigenwilligen Einfall: Die finanziell besser gestellten Kassen des Landes sollen ihre Rücklagen den maroden und verschuldeten Konkurrenten "leihen". Nachdem der Nationalrat in Wien dies im Juli 2002 beschlossen hat, wird nun vor dem Verfassungsgerichtshof über das Gesetz verhandelt.

In der Schweiz wurde in diesem Sommer ein Niederlassungsstopp verhängt, um das Krankenkassensystem vor steigenden Kosten durch neu eröffnete Praxen zu schützen. Bis zum Juli 2005 darf in der Eidgenossenschaft kein Arzt mehr eine Praxis eröffnen.

Grenzüberschreitende Nothilfe

Doch kurzfristig durchgeführte Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich, wie der Bettenabbau in Krankenhäusern, können schon mittelfristig zu Problemen für die Patienten führen. Winfried Beilmann, Geschäftsführer des Pius-Krankenhauses in Ochtrup an der deutsch-niederländischen Grenze, warnte in einem Gespräch mit DW-WORLD davor, in Deutschland die selben Fehler wie in Holland zu begehen: "Man hat dort die Kapazitäten der Krankenhäuser massiv heruntergefahren. Jetzt fehlt es an Personal und Raum. Lange Wartelisten sind die Folge und wir hier helfen gerade den Niederländern ihre Probleme zu bekämpfen." Mehrere grenznahe Krankenhäuser haben Verträge mit einer niederländischen Krankenkasse geschlossen. Sie versorgen jetzt deren Patienten mit.