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Zeit des Wartens

Charlotte Potts29. August 2016

Endlich ins neue Leben starten – arbeiten und eine Wohnung finden. Das ist der größte Wunsch vieler Flüchtlinge in Deutschland - auch der von Samaneh Faramarzi. Doch gefragt sind erst mal Geduld und Improvisationstalent.

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Traglufthalle für Flüchtlinge in Berlin-Moabit (Foto: DW/C. Potts)
Bild: DW/C. Potts

Samaneh Faramarzi ist ungeduldig. Die junge Iranerin will raus an die frische Luft und dann los in die nahe gelegene Küche. Seit Mai lebt die 31-Jährige mit fast 300 Flüchtlingen aus aller Welt auf engstem Raum in einer Notunterkunft in Berlin-Moabit. Die sogenannte Traglufthalle gleicht einem übergroßen Zelt. Rückzugsorte oder Privatsphäre gibt es dort kaum: Sechs Flüchtlinge teilen sich hier ein Zimmer; statt Türen gibt es Vorhänge. Auch die Luft könnte frischer sein. "Mich stört das nicht", sagt Samaneh beiläufig.

Zwischen Tischtennisplatte, Kicker-Tisch und Kinderbetreuung sucht die Iranerin vier Frauen aus Afghanistan, mit denen sie heute zusammen kochen will. In der Notunterkunft wird zwar dreimal am Tag Essen ausgegeben. Selbst kochen ist aber nicht erlaubt. Wie viele Bewohner vermisst auch Samaneh das Essen aus der alten Heimat: vor allem Kebab, Reis und Tee. Deshalb richtete die Berliner Stadtmission vor einigen Wochen eine Küche in der Nähe der Notunterkunft ein. Wer selbst kochen will, trägt sich in eine Liste ein: Bis zu vier Personen können an den Herdplatten einige Stunden am Tag selbst kochen.

Warten auf den Start ins neue Leben

Eigentlich sollte die Traglufthalle in Berlin-Moabit nur eine Übergangslösung sein: für Asylsuchende, die ein paar Tage ein Dach über dem Kopf zugewiesen bekommen, bevor sie dauerhaft in Gemeinschaftswohnungen untergebracht werden. Doch die hohe Anzahl der Flüchtlinge und längere Bearbeitungszeiten bei den Behörden ließen das Zelt für so manchen zur Dauerunterkunft werden – einige wohnen bereits seit Monaten hier und warten: auf eine Rückmeldung des Bundesamts für Migration, auf das Ergebnis des Asylantrags, auf eine Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft, auf die Möglichkeit einen Job aufzunehmen, auf ein Leben in der neuen Heimat.

Iranerin Samaneh Faramarzi beim Kochen (Foto: DW/C. Potts)
Samaneh Faramarzi spricht fast fließend Deutsch. Um sich die Zeit zu vertreiben, hilft sie den Bewohnern als Übersetzerin - wie hier beim gemeinsamen KochenBild: DW/C. Potts

So geht es auch Samaneh. Die Iranerin tritt durch die Drucklufttür der Traglufthalle ins Freie und atmet tief ein. Vor ihr spazieren die vier Frauen, vollbepackt mit ihnen altbekannten Zutaten, wie Safran und getrockneten Zitronen, die sie beim türkischen Supermarkt um die Ecke gekauft haben. Die Frauen sind ausgelassen: Sie freuen sich offensichtlich, die Notunterkunft für ein paar Stunden hinter sich lassen zu können. Auf dem Weg zur Küche erzählt Samaneh in fast perfektem Deutsch von ihren Plänen: Sie will ein Praktikum machen und dann Zahnmedizin studieren.

"Hier in Deutschland sind alle frei"

"Ich bin sehr froh kein Kopftuch mehr tragen zu müssen", sagt Samaneh. Als sie in Berlin ankam, sei sie erst einmal losgelaufen: Vorbei am Bundestag und Brandenburger Tor, zum Potsdamer Platz, an die Mauer, zum Checkpoint Charlie, zum Alexanderplatz. "Ich konnte mich gar nicht satt sehen", sagt Samaneh. Der Anblick der vielen Frauen ohne Kopftuch machte sie glücklich. Sie dachte: "Hier in Deutschland sind alle frei." Samenehs Tatendrang und ihre Faszination mit der neuen Heimat wirken ansteckend: Sie kann es nicht abwarten, ihr neues Leben zu beginnen.

Doch bis das so richtig losgeht kann es noch dauern. Ob und wie lange ein Flüchtling Asyl in Deutschland erhält, bestimmt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF. Dort müssen Migranten die Gründe für ihre Flucht nach Deutschland schildern. Werden diese von der Behörde akzeptiert, gibt es eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Im Schnitt dauert dieser Prozess derzeit 6,6 Monate, Tendenz steigend (Ende 2015 waren es noch 5,2). Viele Asylbewerber warten derzeit mehr als ein Jahr – die Zahl der Antragssteller überlastet die Behörden. Die drängende Frage "Darf ich auf Dauer in Deutschland bleiben?" wird häufig erst viel später beantwortet.

Manche nutzen die freie Zeit, andere verlieren den Mut

Insofern hatte Samaneh Glück. Nach nur wenigen Wochen erhielt sie eine befristete Aufenthaltsgestattung für ein Jahr. Trotzdem muss auch sie weiter warten, denn ihr Asylverfahren läuft noch. So ist bislang nicht klar, ob die Iranerin auf Dauer in Deutschland bleiben kann. Nächsten Monat hat sie einen neuen Termin bei der Berliner Behörde, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales. "Das lange Warten ist anstrengend", sagt Samaneh. Wie ihr geht es vielen ihrer Mitbewohner in der Notunterkunft. Manche nutzen die viele freie Zeit um Deutsch zu lernen oder sich zu engagieren - sei es in der Küche, sei es im Elternrat. Andere verlieren nach einigen Monaten den Mut und die Hoffnung, dass sie sich in Deutschland tatsächlich eine neue Zukunft aufbauen können.

Afghanische Frauen beim Kochenin Berlin, Notunterkunft Traglufthalle (Foto: DW/C. Potts)
Selbst kochen - das ist ein Glücksmoment für die Frauen aus der Notunterkunft, deren Alltag ansonsten häufig eintönig ist, Foto: Charlotte PottsBild: DW/C. Potts

Samaneh hingegen weiß sich zu beschäftigen. Sie hört Musik oder liest deutsche Bücher. Schon im Iran besuchte sie Deutschkurse. Das kommt ihr jetzt zu Gute. Beim gemeinsamen Kochen übersetzt sie zwischen den Betreibern, der Berliner Stadtmission, und den afghanischen Frauen. In der kleinen Küche brutzeln Tomaten und Zwiebeln im Topf. Samaneh schneidet das Rindfleisch in kleine Stücke. "Im Iran wurde ich verfolgt", erzählt sie. "Ich war Muslimin, wollte aber Christin werden. Da konnte ich nicht länger bleiben." So machte sie sich mit dem Zug auf den Weg in die Türkei und dann mit dem Flugzeug weiter nach Deutschland. Im Vergleich zu den anderen vier Frauen, die heute kochen, sei das eine bequeme Flucht, sagt Samaneh und erzählt von den Strapazen, die ihre Mitbewohnerinnen auf der Balkan-Route durchgemacht haben.

Glücksmomente beim Kochen

Es duftet es nach Knoblauch, Pfeffer, Rind und Kartoffeln. Das sind kleine Glücksmomente für die Frauen – einkaufen und kochen: Routine, wie in der alten Heimat. Dann wird alles in Behälter gefüllt und es geht zurück in die Traglufthalle. Dort wird dann weiter gewartet. Samaneh hat aus der Not des Wartens eine Tugend gemacht. Ihre Deutschkenntnisse nutzt sie, um anderen Flüchtlingen zu helfen. Erst gestern war sie mit einer afghanischen Frau im Kindergarten, um deren Tochter anzumelden. Oft begleitet sie Bewohner zu den Behörden.

Die junge Iranerin will weiter Deutsch lernen, aber momentan sind alle Kurse voll. Doch dank des neuen Asylgesetzes, das die Bundesregierung verabschiedet hat, kann sie sich nun auf Praktika bewerben. Ihr Lebenslauf und ihr Motivationsschreiben sind schon fertig.