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Zeitfenster

28. Mai 2010

Als ich noch im Oberseminar saß, da gab es den Termin. Zum Beispiel den Abgabetermin für Referate...

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: privat

Man hielt ihn ein, oder man tat es nicht. Basta. Heute haben zwar alle Leute Termine, doch wenn es gilt, irgendetwas pünktlich abzugeben oder einzureichen, dann ist nur noch vom Zeitfenster die Rede.

Hat sich, so frage ich mich, in der herrschenden Auffassung von Zeit und Pünktlichkeit etwas geändert, da an die Stelle des Termins das Zeitfenster getreten ist? Das würde mich interessieren!

Von Punkten und Flächen

Ich versuche genau zu sein. Der Termin war ein Punkt auf der Zeitskala. Kaum war er gekommen, war er auch schon verstrichen. Der Termin schrieb sich vom Terminieren her, das heißt: Er setzte einer Zeitspanne ein unwiderrufliches Ende. Das klingt grausam und war es bisweilen auch.

Wie anders klingt Zeitfenster! Im Gegensatz zum Termin hat es eine Ausdehnung. Es ist kein Punkt, sondern hat Breite und Höhe; und während im Termin etwas geradezu Letales steckt (siehe: Terminator), assoziiert man mit dem Fenster unwillkürlich heitere Helligkeit, schöne Aussicht und frische Luft. Vielleicht macht es sogar richtig Spaß, irgendetwas nicht an einem Termin abzuliefern, sondern durch ein Zeitfenster hindurch dem Auftraggeber zu reichen. Gemalt sähe das dann vielleicht so aus wie die Genrebilder, auf denen die sorgende Mutter dem Sohn ein Brot aus dem Küchenfenster reicht oder der Postbote dem liebenden Mägdelein ein Briefchen zu selbigem hinein. Ganz reizend.

Zeitfenster zum All

Arbeit aus der Serie 'ОКНА*WINDOWS' des weissrussischen Fotokünstlers Georgii Lichtarowitsch (Foto: DW/Marina Mazurkevich)
Wo ist das Zeitfenster?Bild: Marina Mazurkevich

Ich vermute übrigens, dass das Zeitfenster in Analogie zum Startfenster entstanden ist. Das war (und ist) die Phase, in der Raketen vom Boden abheben oder sich aus einer Umlaufbahn lösen müssen, damit sie ihr Ziel erreichen können. Allerdings hat dieses Startfenster eher unerfreuliche Implikationen. Wird es nämlich verpasst, ist es erst mal Essig mit der Raumfahrt; man startet nicht ins All wie zu einem Spaziergang. Bei Verspätungen sind da leicht ein paar Millionen Aufpreis fällig.

Womit wir beim Wesentlichen sind: Denn alle Zeitfenster, wie heiter sie auch scheinen, schlagen einmal zu – und dann haben wir ihn wieder, den bösen alten Termin. Sinn des Zeitfensters scheint mir daher weniger eine Aufhellung als vielmehr eine Verschleierung, wenn nicht gar Verdunkelung des Umstandes zu sein, dass die Zeit noch immer unaufhaltsam abläuft und es irgendwann einmal für alles zu spät ist.

Solch strenge Botschaften aber sind schwer zu vermitteln, manchmal vielleicht sogar unzumutbar. Es muss ja überall, wenn nötig auf Biegen und Brechen, entspannt und locker zugehen. Und obwohl, besser: weil besonders im Berufsleben die Zeiten immer härter werden, muss das Reden gelegentlich besonders weich sein. Je schneller das Ende kommen kann, desto weniger darf es ausgesprochen werden. Und deshalb wird momentan der jeweils nächste Termin zum Zeitfenster schöngeredet.

Redaktion: Gabriela Schaaf

Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).