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Zum Seminar ins Café

4. November 2009

Statt die Nacht über durchzutanzen, treffen sich junge Moskowiter, um über Literatur, Kino oder Philosophie zu diskutieren. Denn die Krise hat ihnen gezeigt, dass Konsum nicht alles ist.

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Gespannte Diskussionsrunde im Moskauer Café (Foto: DW/Erik Albrecht)
Gespannte Diskussionsrunde im Moskauer CaféBild: DW/ Albrecht

Diskussionen im Café sind nicht nur die Alternative zur Volkshochschule, sondern auch zum Moskauer Nachtleben. Bislang war es vor allem für seine ausschweifenden Klubparties bekannt. Doch immer mehr jungen Moskowitern ist das nicht genug. So treffen sie sich, um über den Schriftsteller Marcel Proust, das niederländische Autorenkino oder über die Grenzen des ökonomischen Wachstums zu diskutieren. Populär wurden diese Treffs vor allem durch die Wirtschaftskrise. Vielen jungen Menschen hat sie gezeigt, dass stumpfer Konsum nicht alles ist. Und tanzen kann man nach einer anregenden, intellektuellen Diskussion auch gleich besser.

Bildung in der Boutique

Kaffee oder Tee zum Seminar? (Foto: DW/Erik Albrecht)
Kaffee oder Tee zum Seminar?Bild: DW/ Albrecht

Ein Seminar findet in einer kleinen Boutique statt. Etwa 40 Leute drängen sich zwischen die Kleiderständer mit "Klamotten für kreative Leute", wie die Chefin Olga stolz erklärt. Dort, wo sich sonst die Umkleidekabinen befinden, stellt der schwedische Comikzeichner Knut Larsson seine Arbeiten vor. Im Publikum sitzt der 21-jährige Reklame-Designer Dima. Ihm gefällt der Moskauer Trend zu Kaffeehausseminaren sehr gut. "Solche Abende empfinde ich als bereichernd", sagt er. Ihn hat die Wirtschaftskrise arbeitslos gemacht. Deshalb nutzt er die Zeit, um sich persönlich weiterzubilden. "Der Mensch sucht ja immer nach etwas. Und das möchte ich nicht aufgeben."

Immer mehr Cafés bieten Literatur- oder Themenabende an. Ist beim Filmegucken mit kinotheoretischem Hintergrund der Spaß-Faktor noch leicht zu erkennen, wird es bei Themen wie die "Physik der Sonnenflecken" oder "Infektionskrankheit und die Demografie im 21. Jahrhundert" schon schwieriger. Doch nach dem Ende des russischen Aufschwungs stellen sich viele der Jungen bislang so erfolgreichen, die Frage nach dem Sinn hinter dem stumpfen Konsum. "Die Krise hat bei vielen die Akzente verrückt", meint auch der Designer Danil. Viele wollen ihre Freizeit sinnvoll verbringen. Freitags würden sich normalerweise alle betrinken und bis in den Morgen tanzen. "Aber irgendwann hast du genug davon auszugehen."

Also suchten Danil und sein Freund Askar nach einer Alternative, um den neuen Bildungshunger der Moskowiter zu stillen: Sie organisieren Design-Vorlesungen, die nahtlos in einen Klubabend übergehen. Als bis zu 150 Leute zu ihren Seminaren kamen, gründeten sie die Webseite "Theorie und Praxis". Darauf veröffentlichen sie Termine für offene Seminare, Diskussionsrunden und ähnliche Angebote in der Stadt und nennen es: "Die Volkshochschule des Web 2.0". Endlich eine Bewegung, die in Moskau erfunden wurde und nicht - wie sonst - aus dem Westen kopiert wurde", sagen sie stolz.

Kino im Café

Trotz der unbequemen Stühle boomen die Filmabende (Foto: DW/Erik Albrecht)
Trotz der unbequemen Stühle boomen die FilmabendeBild: DW/ Albrecht

Ein solcher Bildungsabend findet auch im Café ExLibris statt. Ein niederländischer Film läuft auf kleiner Leinwand. Die Gäste rutschen unruhig auf unbequemen Holzstühlen hin und her und immer wieder haben sie den Kopf ihres Vordermanns im Bild, die knarrende Stimme des russichen Übersetzers dröhnt aus dem alten Lautsprecher. Und trotzdem: das kleine Café ist brechend voll. Das freut auch die Literaturkritikerin Maria: "In letzter Zeit hat es einen richtigen Boom gegeben. Es kommen deutlich mehr Jugendliche." Früher seien vor allem Leute über 30 gekommen.

Im Café ExLibris stellt Maria jeden Donnerstag ihre persönlichen Kinoschätze vor, samt Einführungsvorlesung. "Ich könnte natürlich noch was über Methoden erzählen", erklärt sie den rund 20 Zuhörern. "Aber das ist alles relativ langweilig und völlig sinnlos. Deshalb schlage ich vor, dass wir einfach den Film schauen", ergänzt sie und startet ihn.

Danach geht es ans Eingemachte: "Was will uns der Autor mit dem Film sagen?" Die Frage, die in jeder Schulstunde wohl nur ein kollektives Gähnen hervorgerufen hätte, sorgt hier für Begeisterung. Auch bei der 23-jährigen Daria: "Hier gibt es keine Grenzen, die dir andere Menschen setzen", sagt sie. "Das brauche ich. Denn das zeigt, dass wir noch denken und leben."

Und noch etwas spricht für das niederländische Autorenkino: Der Filmabend bei einem kühlen Bier ist deutlich günstiger als eine durchzechte Nacht in den Moskauer Klubs. Die Krise lässt grüßen.

Autor: Erik Albrecht
Redaktion: Heidi Engels