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"Der politische Wille ist da, Nazis zu bestrafen"

Tania Krämer, Jerusalem7. August 2015

Efraim Zuroff jagt seit über 35 Jahren Nazi-Kriegsverbrecher. Er baut auf die Hilfe der Öffentlichkeit, die letzten lebenden Nazis zu finden. Es gibt sie noch immer, sagt er, und ans Aufhören denkt er noch lange nicht.

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Efraim Zuroff - Foto: Darko Vojinovic (AP)
Bild: picture-alliance/AP Photo/D. Vojinovic

Deutsche Welle: Herr Zuroff, viele nennen Sie einen der letzten Nazi-Jäger. Würden Sie sich auch so beschreiben?

Efraim Zuroff: Es macht meinen Job leichter, diese Beschreibung zu nutzen. Wenn man sagt, man ist Nazi-Jäger, dann ist es offensichtlich, dass meine Hauptbeschäftigung darin besteht, Nazis vor Gericht zu bringen. Ich bin zu einem Drittel Detektiv, zu einem Drittel Historiker und zu einem Drittel politischer Lobbyist. Diese drei Bezeichnungen beschreiben, wie man heute im 21. Jahrhundert Nazis jagt.

70 Jahre nach Kriegsende - wird die Zeit nicht langsam eng, Täter aus der NS-Zeit zu finden? Die Täter von damals sind mittlerweile in einem hohen Alter.

Es gibt weniger, ja, das stimmt. Aber es ist erstaunlich, wie viele immer noch da sind. Die meisten Leute sind sich dessen nicht bewusst. Es hängt mit der längeren Lebenserwartung zusammen. Oder anders gesagt: Wenn der Holocaust und der 2. Weltkrieg 1920 geendet hätten, würden wir dieses Gespräch sicher nicht führen.

Wie jagen Sie heute NS-Verbrecher?

Von Anfang an war die Art und Weise, wie wir vorgehen mussten, eher absurd. Die Polizei ermittelt, wenn ein Verbrechen begangen wird und sie nach den Tätern fahndet. Wir können das nicht. Wir haben damit erst Jahrzehnte nach Kriegsende angefangen. Und die meisten, die während des Holocaust Verbrechen beginnen, waren schon damals tot.

Ich mache diese Arbeit seit 35 Jahren. Unsere Vorgehensweise hat sich dahin gehend entwickelt, dass wir Informationen und Erkenntnisse über potenzielle Verdächtige ermitteln, die möglicherweise Kriegsverbrechen begangen haben, und die noch am Leben sind.

Die meisten bekannten Nazis sind bereits tot. Wie schwierig ist es, mutmaßliche NS-Verbrecher ausfindig zu machen? Sind sie untergetaucht, leben sie unter anderem Namen?

Diejenigen, die wir ausfindig machen, haben ihre Namen nicht geändert. Diese Leute haben nie damit gerechnet, dass irgendjemand nach ihnen suchen wird. Wer sucht schon nach Mitgliedern von litauischen Bürgerwehren zum Beispiel, die Juden ermordet haben, sogar noch bevor die Nazis kamen. Oder die Mitglieder der Waffen-SS an der Ostfront? Wer würde sich schon für die interessieren? Diese Leute sind nun plötzlich ins Visier gerückt. Einige sagen, das ist nicht fair. Denn deren Vorgesetzte, die viel wichtiger waren, wurden nie vor Gericht gestellt. Oder wurden vor Gericht gestellt, kamen aber mit Freisprüchen beziehungsweise leichten Strafen davon. Aber das Konzept der individuellen Verantwortlichkeit bezieht sich auf jeden Einzelnen. In einigen Fällen kann man sagen, diese Leute haben das Pech, ein so hohes Alter erreicht zu haben.

2005 haben Sie die Aktion #link:http://operationlastchance.org/index-e.php:Operation Last Chance# in Deutschland und in anderen Ländern gestartet. 2013 wurden dafür Plakate in deutschen Städten aufgehängt, um zur Mithilfe bei der Suche nach NS-Verbrechern zu werben. Für Hinweise wurde sogar eine finanzielle Belohnung in Aussicht gestellt. Es gab aber auch Kritik. Was haben Sie mit Ihrer Kampagne erreicht?

Viele wissen, das Simon-Wiesenthal-Zentrum spürt Nazis auf und sucht nach Informationen. Diese Leute müssen natürlich nicht ein Plakat an einer Berliner Bushaltestelle sehen, um sich daran zu erinnern. Sie würden uns sowieso per E-Mail oder Telefon kontaktieren. Um ganz ehrlich sein, viele der Hinweise, die wir bekommen, sind eher wertlos. Ein Beispiel: Ich habe einen Telefonanruf von jemandem bekommen, der mir erzählte, er habe den 1970er Jahren als Rucksacktourist in Peru irgendwo einen älteren Deutschen gesehen, der in einer Hütte gelebt hat. Also, was soll ich da machen? Eine Privatjet chartern und nach Peru fliegen?

Und diese Leute rufen Sie erst jetzt an?

Ja jetzt. Es gibt dafür Auslöser, zum Beispiel den Lüneburger Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning. Ein Plakat in Hamburg, Köln oder München erinnert die Leute an etwas, was sie fast verdrängt hatten. Und ich helfe ihnen dabei, ihr Schuldgefühl zu beruhigen, warum sie das Ganze nicht vor 40 Jahren bereits gemeldet haben. (lacht)

Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Sie mit Ermittlungen anfangen?

Es gibt drei Kriterien. Erstens: Glaubwürdigkeit. Zweitens: Sind die Verdächtigen am Leben und gesundheitlich fit genug, um vor Gericht gebracht zu werden? Und drittens: Gab es in der Vergangenheit schon Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen gegen sie, und wenn ja, wofür genau wurden sie angeklagt?

In Deutschland gab es in den vergangenen Jahren zwei größere Strafverfahren gegen NS-Verbrecher: den Fall Oskar Gröning und 2011 das Verfahren gegen Ivan Demjanjuk. Nach dem Demjanjuk-Urteil gingen viele Beobachter davon aus, dass mehr solcher Fälle vor Gericht gebracht werden könnten. War das denn der Fall?

Gröning war nur der Erste. Es gibt ein Dutzend Fälle, in denen ermittelt wird. In den meisten Fällen ermitteln die Deutschen, das muss man ihnen anrechnen. Die Staatsanwaltschaft in Ludwigsburg hat eine juristische Strategie entwickelt: Demjanjuk war bewaffneter SS-Aufpasser im Todeslager Sobibor, in dem der Massenmord an Juden stattfand. Er sei deshalb automatisch - so die Ludwigsburger Ermittler - wenigstens der Beihilfe zum Mord schuldig.

Also haben diese Prozesse neue Wege für weitere Fälle ermöglicht?

Als eine Konsequenz des Verfahrens gegen Demjanjuk haben wir eine Liste mit den Namen von 80 Personen an das deutsche Justizministerium geschickt. Diese Leute hatten in den sogenannten Einsatzgruppen A, B, C und D gedient, also bei mobilen Todesschwadronen von SS und Polizei. Aber unser Problem ist der Datenschutz. In anderen Worten: Ich kann eine Liste mit Namen haben, aber ich kann diese Leute nicht ausfindig machen, weil wir keinen Zugang zu den Melderegistern haben. Wir warten jetzt auf Antwort der deutschen Behörden.

Wie sehen sie deutsche Rolle in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen?

Am Anfang gab es in der Bundesrepublik sehr große Widerstände gegen die Strafverfolgung von Nazis in Deutschland. Die Justiz wurde dadurch nicht komplett ausgebremst, aber einige Urteile waren einfach nur lächerlich. Menschen, die in deutschen Todeslagern wie Sobibor oder Treblinka ihren Dienst taten, bekamen nur wenige Jahre Gefängnis.

Aber wir sind heute Lichtjahre von dieser Ära in den 1960er und 70er Jahren entfernt. Vor allem, was das Wissen über den Holocaust angeht. Man weiß jetzt, welche entsetzlichen Gräueltaten begangen wurden. Und hätte man damals schon, vor 40 Jahren, die gleichen juristischen Kriterien wie heute angewendet, dann hätte sich die Zahl der Fälle um das 40- oder 60-Fache erhöht.

Die Veränderung ist enorm. Und diese enorme Veränderung kam spät, aber sie kam. Deutschland ist ein Land, in dem Nazis zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn man das mit Österreich vergleicht - dort wurde in den vergangenen 30 oder 40 Jahren nichts Bedeutendes unternommen. In Deutschland gibt es den politischen Willen, Nazis vor Gericht zu bringen. Dafür steht die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.

Was sehen Sie als ihren größten Erfolg?

Das Wichtigste für mich ist, dass die Welt sieht, dass der Holocaust nicht nur von Deutschen und Österreichern begangen wurde - sondern es war Europa gegen die Juden. Oder in anderen Worten: In jedem einzelnen Land in Europa gab es Bürger, die den Nazis geholfen haben. Und in Osteuropa, wo ich die meiste Recherchearbeit geleistet habe, bedeutete diese Kollaboration mit den Nazis oft aktive Beteiligung am Massenmord.

Gibt es auch Dinge, die Sie bedauern oder die man hätte besser machen können?

Es gibt eine lange Liste mit Verdächtigen, die während der Ermittlungen starben oder als ihnen der Prozess gemacht wurde. Das kann schon sehr frustrierend sein. Oder als der mutmaßliche ungarische Kriegsverbrecher Sandor Kepiro 2011 freigesprochen wurde. Das ganze Verfahren gegen ihn war eine reine Farce. Ich hatte damals das unglaublich schmerzliche Gefühl gegenüber den Opfern versagt zu haben. Denn ich mache das für sie, nicht für mich.

Der einzige Weg um über das Gefühl der Frustration und Scheiterns hinwegzukommen, war an die Opfer zu denken. Mir bewusst zu machen, was sie alles durchgemacht haben. Das war millionenfach schlimmer als mein Gefühl von Frustration. Ich sagte mir, "wenigstens haben wir den Kerl vor Gericht bekommen. Wir haben sein Leben ruiniert." Das muss doch etwas zählen? Um mich aufzumuntern, habe ich einen anderen Maßstab an Erfolg entwickeln müssen.

Der in den USA geborene Israeli Efraim Zuroff ist Direktor des #link:http://www.wiesenthal.com/site/pp.asp?c=lsKWLbPJLnF&b=6212365:Simon-Wiesenthal-Zentrums# in Jerusalem und koordiniert die Suche nach Nazi-Verbrechern.

Das Interview führte Tania Krämer.