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Die Störenfriede

22. Oktober 2009

Mit 76 Abgeordneten ist die Linksfraktion überraschend groß geworden. Zwischen den Strömungen droht viel Streit. <i>Vierter Teil unserer Serie über die neuen Fraktionen im Bundestag</i>

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Oskar Lafontaine im Kreise von Bundestagsabgeordneten der Linken bei der Fraktionsklausur Anfang Oktober in Rheinsberg (Foto: DPA)
Oskar Lafontaine im Kreise der neuen Bundestagsfraktion, deren Chef er künftig nicht mehr istBild: dpa

Weiter der Störenfried für die anderen Parteien zu sein, die in der "neoliberalen Konsenssoße" schwimmen - so sieht Linksfraktionschef Gregor Gysi die Rolle seiner Mannschaft im Bundestag. Zählt er die Häupter seiner Lieben, kann er zufrieden sein: Auf 76 Abgeordnete ist die Fraktion angewachsen, darunter sind 40 Frauen.

Dabei liegen die Zeiten nur zwei Legislaturperioden zurück, als zwei einsame Damen aus dem Osten für die Linke, die damals noch PDS hieß, in einer Ecke des Bundestages saßen und mit der Verwaltung sogar um Schreibpulte und Telefone streiten mussten. Doch 11,9 Prozent Wählerstimmen haben der Partei "Die Linke" die viertgrößte Fraktion beschert.

Viele Neulinge aus dem Westen

Fast die Hälfte der Abgeordneten sind erstmals im Parlament. Die meisten Neulinge stammen aus dem Westen, wo die Partei besonders stark zugelegt hat. Sogar in Bayern hat die Partei 6,5 Prozent erzielt. "Das sind immerhin fast eine halbe Million Menschen, die uns gewählt haben", freut sich Nicole Gohlke, 33-jährige Kommunikationswissenschaftlerin aus München, die erstmals ins Parlament einzieht. Die Frage, wie man als junger Mensch im wohlhabenden Süden Deutschlands ausgerechnet zur Linken komme, beantwortet sie mit dem Satz: "Auch in Bayern gibt es eine soziale Frage." Im reichen Speckgürtel um München hat die Linke kaum gepunktet, dafür aber in strukturschwachen Gebieten Oberfrankens, die früher SPD-Hochburgen waren.

Nicole Gohlke - neue Bundestagsabgeordnete der Linken aus Bayern (Foto: Die Linke) Foto: Linksfraktion
Nicole Gohlke: Auch in Bayern stellt sich die soziale FrageBild: Die Linke

Für Gohlke, die nach eigener Aussage bei den Protesten gegen den zweiten Golfkrieg 1991 und bei Studentenstreiks politisiert wurde, später bei Attac und noch später bei der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) mitmachte, und über diese zur Linken gelangte, ist der enge Kontakt zu den sozialen Bewegungen etwas, was sie auch im Parlament beibehalten möchte. Diese Erfahrung der West-Linken könne eine Bereicherung der Fraktion sein, sagt sie.

Mehr Schwung und mehr Streit

Mit Leuten wie Nicole Gohlke, gern als radikale West-Linke bezeichnet, bekommt die bisher von ostdeutschen Pragmatikern und enttäuschten Sozialdemokraten aus dem Westen dominierte Fraktion ein neues, frischeres Gesicht. Und möglicherweise wird es auch mehr Streit geben.

Die in der PDS weitgehend ausgestandene Frage, ob man sich überhaupt an Regierungen beteiligen soll, wird mit den Radikalen aus dem Westen wieder aktuell. Derzeit hat sie nur auf Länderebene Brisanz: In Berlin, wo die Linke mit den Sozialdemokraten regiert, und in Brandenburg, wo die rot-rote Regierungsbildung im Gange ist. Eine eventuelle Regierungsbeteiligung im Bund nach den nächsten Bundestagswahlen im Jahr 2013 dürfte in der Linksfraktion jedoch bald zu Streit führen.

Traumergebnis für Gysi

Auch die Diskussion des Parteiprogramms dürfte die Fraktion durchschütteln. Denn wie keine andere ist die Fraktion der Linken ein Spiegelbild unterschiedlicher Flügel und Strömungen. Der künftig allein als Fraktionschef agierende Gregor Gysi spricht von der "großen Freude, eine solche pluralistische Fraktion zu führen", doch die Freude dürfte ihm bald vergehen.

Gregor Gysi, bei der Stimmabgabe zur Bundestagswahl in seinem Wahllokal in Berlin (Foto: AP)
Eine von 5.155.933 Stimmen für die Linke - künftig führt Gysi die Linksfraktion alleinBild: AP

Gysi erzielte mit fast 95 Prozent der Stimmen ein Traumergebnis bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden. Gysis bisheriger Partner in der Doppelspitze der Fraktion war Oskar Lafontaine. Sein Verzicht auf eine Kandidatur und die selbsterklärte Konzentration auf den Parteivorsitz kurz nach der erfolgreichen Bundestagswahl kam für viele überraschend. Die kuriose Folge ist: Bisher hatte die Linke zwei Fraktionsvorsitzende, aber nur einen Sitz in der ersten Reihe des Parlaments. Künftig wird es umgekehrt sein.

Vielleicht entspannt sich mit Lafontaines Abgang aus der exponierten Stellung der Linksfraktion auch deren Verhältnis zu den Sozialdemokraten im Parlament. Der Ex-SPD-Chef wirkt auf viele Sozialdemokraten immer noch wie ein rotes Tuch. Allerdings will die Linke weiter demonstrieren, dass sie anders als die SPD glaubwürdig gegen sozialen Kahlschlag eintritt und beansprucht lautstark die Führungsrolle in der Opposition.

Ein verzichtbares Privileg

Mit doppeltem Zaun und Videokameras gesichert ist das Gebäude des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln (Foto: DPA)
Im Kölner Verfassungsschutzgebäude sammelt man Erkenntnisse über die LinkeBild: picture-Alliance/dpa

Die Fraktion hat sich Anfang Oktober auf ein 10-Punkte-Sofortprogramm geeinigt, für das sie im Bundestag eintritt. Die Forderungen reichen vom sofortigen Abzug aus Afghanistan über die Abschaffung der Arbeitsmarktreform Hartz IV bis zum Festhalten am Atomausstieg. Man werde die anderen Parteien sehr bald mit Anträgen zwingen, Farbe zu bekennen, sagt Vize-Fraktionschef Ulrich Maurer, ein ehemaliges SPD-Mitglied: "Man soll sehen, wie sie abstimmen."

Ein Privileg hat die Linke den anderen vier Fraktionen auf jeden Fall voraus, auf das sie allerdings gern verzichten würde: Sie ist die einzige Bundestagsfraktion, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, weil es aus dessen Sicht Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen gibt.

Autor: Bernd Gräßler

Redaktion: Kay-Alexander Scholz