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Zwischen Angst und Überheblichkeit

Thomas Bärthlein/dk6. Juni 2002

Nachdem auf dem Asiengipfel in Kasachstan kein Dialog zwischen Indien und Pakistan zustande kam, ist nun US-Unterhändler Richard Armitage in Pakistan eingetroffen, um zu vermitteln.

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Gespanntes Warten: Nur der Westen kann offenbar den Krieg verhindernBild: AP

Russen, Engländer und Chinesen haben bisher nicht besänftigend auf die Konfliktparteien im Kaschmirkonflikt einwirken können. Nun bereist der stellvertretende Außenminister der USA Pakistan und Indien. Die größte Supermacht der Erde wirft ihr ganzes Gewicht in die Waagschale, um eine Eskalation zu verhindern.

Seit der Kuba-Krise Anfang 1962 war die Menschheit nie so nahe an einem Nuklearkrieg wie in diesen Wochen. Bis zu zwölf Millionen Menschen könnten dabei in Indien und Pakistan unmittelbar getötet werden, haben Experten errechnet. Die Ausgangslage im indisch-pakistanischen Streit um Kaschmir unterscheidet sich jedoch grundlegend vom Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA in den 1950er und 1960er Jahren.

Kein Engagement des Westens in Sicht

Die Welt schwankt derzeit zwischen Panik und Verdrängung. Vor allem im Westen liegt das an einer bedenklichen Fehleinschätzung der Konfliktlage: Aus "kulturellen" Gründen könne der Mechanismus der nuklearen Abschreckung in Südasien nicht im gleichen Maße greifen wie im Kalten Krieg – analysierte eine große deutschsprachige Zeitung. Unterschwellig klingt da mit: Die Asiaten sind eben nicht fähig, mit Atomwaffen so rational umzugehen wie wir im Westen.

Eine historische Kriegssituation

In Wirklichkeit ist die Ausgangssituation einfach eine andere als im Kalten Krieg. Es gab keinen seit Jahrzehnten schwelenden Grenzkonflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Daher konnten sich die beiden relativ leicht darauf verständigen, dass direkter Krieg auch in der Region, wo sie sich am nächsten waren, in Europa, tabu war. Dabei blieb immer noch genügend Platz für Stellvertreterkriege in Afrika und Asien – ein Arrangement, das für Vietnamesen, Angolaner und Afghanen nicht gerade vorteilhaft war, das aber wenigstens den großen Krieg wirksam verhinderte.

In Südasien ist einiges anders: Pakistan beansprucht seit mehr als 50 Jahren das Kaschmir-Tal für sich, das unter indischer Kontrolle steht. Und Pakistan hat lange vor den Atomtests begonnen, Separatisten dort mit Waffen und Logistik zu unterstützen.

Krieg und atomare Gegenwehr

Seit dem Anschlag auf das indische Parlament im Dezember 2001 liegen nun zwei Drohungen in der Luft: Indien droht Pakistan mit Krieg, wenn Islamabad terroristische Aktivitäten auf indischem Boden nicht unterbinde. Und Pakistan droht für den Fall eines Krieges damit, eventuell auch Atomwaffen einzusetzen. Beide Drohungen sind an die internationale Gemeinschaft genauso adressiert wie an den Nachbarn.

Tatsache ist: Das "Gleichgewicht des Schreckens" funktioniert in Südasien nicht verläßlich. Es mag zwar sein, dass es in den vergangenen Monaten Schlimmeres verhindert hat. Aber bedenklich ist, wie offen über die Führbarkeit eines Krieges spekuliert wird. In Indien überlegt man öffentlich, ob Pakistans Drohung mit dem nuklearen Erstschlag nur ein "Bluff" sei. Erstens habe Pakistan im Falle eines Atomkriegs schlimmere Verwüstungen zu befürchten, und zweitens würden die USA ohnehin intervenieren. Umgekehrt ist die Versuchung für Pakistan groß, die indische Kriegs-Rhetorik als "Bluff" abzutun.

Eine ungewisse Zukunft

Die internationale Gemeinschaft liefert weiterhin Waffen an beide Konfliktparteien. Sie bemüht sich zugleich, beide an einen Tisch zu bekommen, allerdings ohne klare Konzepte. Die USA, Großbritannien und Deutschland haben ihren Staatsbürgern geraten, den Subkontinent zu verlassen. Interessanterweise hat das am meisten bewirkt: Von beiden Seiten waren prompt gemäßigtere Töne zu hören, weil sie gemerkt haben, dass sie die Weltöffentlichkeit nicht ungestraft als Geisel nehmen können. Wenn zehntausende von Europäern und Amerikanern aus der Region fliehen, hat das unabsehbare wirtschaftliche Konsequenzen. Diese Rationalität versteht man in Südasien sehr wohl, und sie ist ein wichtiges Gegengewicht zu den – nicht zuletzt innenpolitischen – Kalkulationen, die die Eskalation fördern.