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Zwischen Depression und Hoffnung

Stefan Nestler25. April 2016

Ein Jahr nach dem Erdbeben in Nepal kann von Normalität in den am härtesten getroffenen Regionen noch keine Rede sein. Der Wiederaufbau lahmt, die Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Ein Besuch im Erdbebengebiet.

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Nepal ein Jahr nach dem Erdbeben (Foto: DW/S. Nestler)
Bild: DW/S. Nestler

"Wir haben all unsere Träume verloren", sagt Punya Gajurel traurig. Der Manager der Schule im nepalesischen Dorf Mailchaur hat in sein Büro im zweiten Stock geladen. Eigentlich dürfte sich auch hier niemand aufhalten, denn die Regierung hat die Schule nach dem Erdbeben der Stärke 7,8 am 25. April 2015 gesperrt. Eine rote Fahne an der Außenwand erklärt das Gebäude zur Sperrzone. "Irgendwo müssen wir doch weiterarbeiten", meint Gajurel fast schon trotzig. "Das ist der einzige Raum, der uns geblieben ist." Dass sich genau unter dieser Stelle, zwei Stockwerke tiefer, die vom Beben beschädigten Wände unter der Last der oberen Etagen biegen, als wären sie aus Gummi, und wirken, als würden sie jeden Moment zusammenbrechen, scheint er auszublenden.

Provisorische Klassenräume

Unterrichtet wird nicht mehr in dem Gebäude, das von der deutschen Hilfsorganisation "Nepalhilfe Beilngries" finanziert und erst 2013 feierlich eingeweiht worden war. Jetzt ist es ein Fall für die Abrissbirne. Die rund 400 Schülerinnen und Schüler in Mailchaur lernen seit einem Jahr in provisorischen Klassenräumen, mit Bambuswänden und Wellblechdächern - wie fast alle Kinder und Jugendlichen in Sindhupalchowk, wo die "Nepalhilfe Beilngries" in den letzten zwei Jahrzehnten rund 20 Schulen gebaut hat.

Nepal ein Jahr nach dem Erdbeben (Foto: DW/S. Nestler)
Kellergeschoss der Schule in MailchaurBild: DW/S. Nestler

In diesem Distrikt, rund 70 Kilometer östlich der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu, hat das Beben besonders hart zugeschlagen. Mehr als 3500 der registrierten rund 9000 Erdbeben-Toten in Nepal wurden in Sindhupalchowk beweint. In den Dörfern der hügeligen Gegend stürzten 80 bis 90 Prozent der Häuser ein.

Ansteckende Krankheiten

Nach wie vor leben die meisten Menschen in Sindhupalchowk in notdürftig zusammengezimmerten Hütten. "Infektiöse Krankheiten wie Erbrechen oder Durchfall breiten sich schnell aus, weil in den Notunterkünften sehr viele Menschen auf engstem Raum leben", sagt Sabina Parachuli. Die 25 Jahre alte Ärztin arbeitet im Krankenhaus der Bezirkshauptstadt Chautara, das eigentlich nur eine Zeltklinik ist. Das alte Gebäude wurde von dem Beben so stark beschädigt, dass es ohne aufwendige Reparaturarbeiten nicht genutzt werden kann.

Nepal ein Jahr nach dem Erdbeben (Foto: DW/S. Nestler)
Zeltklinik in ChautaraBild: DW/S. Nestler

Lethargische Regierung

Die Menschen in Sindhupalchowk sind es leid, auf Hilfe aus Kathmandu zu warten. Zwölf Monate sind seit dem verheerenden Beben ins Land gegangen, passiert ist so gut wie nichts. In der Hauptstraße von Chautara sieht es immer noch aus, als hätten die Erdstöße erst vor kurzem zugeschlagen. Von einem entschlossenen Wiederaufbau kann keine Rede sein. Die Einwohner schimpfen auf die lethargische Regierung. "Eigentlich müsste sie uns so schnell wie möglich helfen", sagt Ärztin Parachuli. "Doch die Regierung macht nur Politik, Politik, Politik, anstatt dort anzupacken, wo es nötig ist." Deshalb komme die Hilfe nur sehr schleppend auf Touren und es gebe kaum Fortschritte. "Wir setzen keine Hoffnung mehr auf die Regierung. Wir versuchen einfach, selbst unser Bestes zu geben."

Nepal ein Jahr nach dem Erdbeben (Foto: DW/S. Nestler)
Die Menschen, wie hier im Bergdorf Kadambas, helfen sich selbst anstatt auf die Hilfe der Regierung zu wartenBild: DW/S. Nestler

Verschärft wurde die Lage in den Wintermonaten noch durch die Auswirkungen einer Blockade der Grenze zu Indien, mit der die Volksgruppe der Madhesi gegen die neue Verfassung des Landes protestierte. Die Importe aus dem Nachbarland blieben aus. Plötzlich kostete ein Liter Benzin 500 Rupien, umgerechnet fünf Euro. Nicht nur Treibstoff, auch Medikamente, Lebensmittel und Baumaterialien wurden knapp. Die Hilfe für die Erdbebengebiete geriet ins Stocken.

Viele psychisch Kranke

Inzwischen ist die Grenzblockade beendet, doch entspannt hat sich die Lage nicht. Sabina Parachuli und ihre Kollegen im Krankenhaus von Chautara haben alle Hände voll zu tun. "Wir haben hier weiterhin große medizinische Probleme", berichtet die junge Ärztin. "Jene, die sich damals verletzt haben, sind immer noch nicht vollständig genesen, sondern haben Probleme, vor allem an den Gliedmaßen. Sie wurden damals operiert und sind derzeit nicht in der Lage, wieder ihr normales Leben zu führen. Oft waren sie die einzigen, die für das Einkommen der Familie sorgten. Jetzt verdienen sie nichts. Und ihre Angehörigen sind damit beschäftigt, sich um sie zu kümmern." Viele Menschen in Sindhupalchowk litten an post-traumatischen Störungen, sagt Parachuli. "Sie haben schon vor den kleinsten Dingen Angst, haben Schlaf- und Essstörungen." Einige seien hochgradig depressiv, weil sie Familienangehörige, ihr Haus oder das gesamte Eigentum bei dem Beben verloren hätten. Und dabei kämen nur etwa 30 bis 40 Prozent der psychisch Erkrankten überhaupt ins Krankenhaus, schätzt die Ärztin: "In unseren Dorfgemeinschaften sind psychische Erkrankungen stigmatisiert, die Erkrankten werden häufig diskriminiert."

An Nachbeben gewöhnt

Auch die Kinder in Sindhupalchowk standen anfangs unter Schock. "Vor dem Beben sah ich in lächelnde, glückliche Kinder-Gesichter, danach in traurige. Sie hörten sogar auf, miteinander zu reden", erinnert sich Shailaja Kasaju. Die 27 Jahre alte Englischlehrerin hatte erst zwei Wochen zuvor begonnen, in der Schule des Dorfes Sangachok zu unterrichten, als das Erdbeben zuschlug. Die Kinder seien so traumatisiert gewesen, dass sie bei den ersten Nachbeben häufig aus dem Fenster der provisorischen Schulräume gesprungen seien. Inzwischen hätten sie sich an die Situation gewöhnt, sagt Shailaja Kasaju: "Sie kennen sich mit Erdbeben aus und wissen, was sie zu ihrer eigenen Sicherheit beitragen können." Mehr als 400 Nachbeben der Stärke vier und darüber wurden seit dem großen Beben registriert. Und sie hören nicht auf. Ein Grund, warum viele in Sindhupalchowk fürchten, dass sie Vorboten eines weiteren, womöglich noch verheerenderen Erdbebens sein könnten.

Nepal ein Jahr nach dem Erdbeben (Foto: DW/S. Nestler)
Auch ein Jahr nach dem Beben werden die Schulkinder noch in Wellblechschuppen unterrichtetBild: DW/S. Nestler

Noch kein Licht am Ende des Tunnels

Von Normalität könne im Distrikt Sindhupalchowk keine Rede sein, sagt Ärztin Sabina Parachuli: "Natürlich gibt es ein Licht am Ende des Tunnels. Aber der Tunnel verläuft nicht gerade, sondern hat Kurven. Deshalb können wir das Licht heute noch nicht sehen. Das können wir erst, wenn wir an die Stelle kommen, wo der Tunnel gerade wird. Diesen Punkt haben wir nicht erreicht. Aber ich hoffe, dass wir es sehr bald schaffen werden."

DW-Redakteur Stefan Nestler, der Autor des Berichts, hat nach dem Erdbeben in Nepal das Hilfsprojekt "School up!" ins Leben gerufen. Mit den Spendengeldern soll die bei dem Erdbeben zerstörte Schule in Thulosirubari im Distrikt Sindhupalchowk so schnell wie möglich wiederaufgebaut werden. In seinem Blog berichtet er über den Fortgang des Projekts.