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Türkei und Armenien

2. November 2009

Im osttürkischen Alican ist die Annäherung an das Nachbarland Armenien umstritten. Die Anwohner des türkischen Grenzdorfs sind geteilter Ansicht über die Annäherung mit Armenien.

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Azerische Frauen in Unter-Alican (Foto: DW/Susanne Güsten)
Azerische Frauen in Unter-AlicanBild: Susanne Güsten
Einigkeit bei Vertragsunterzeichnung: Der Armenische Außenminister Edouard Nalbandian schüttelt seinem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu die Hand (Foto: AP)
Der Armenische Außenminister Edouard Nalbandian und sein türkischer Amtskollege Ahmet Davutoglu (Foto: AP)Bild: AP

Kurz hinter Alican ist die Türkei zu Ende. Die Straße führt aus dem bitteramen Dörfchen im Schatten des Berges Ararat im äußersten Osten Anatoliens zu einem schwer gesicherten Posten der Armee. Dort ist Schluss – denn dort verläuft die Grenze zu Armenien. Der Übergang ist geschlossen. Seit 16 Jahren ist hier niemand mehr von einem Nachbarland ins andere gelangt.

Das soll sich nun bald ändern, und deshalb wird auf den staubigen Dorfstraßen von Alican heftig über Außenpolitik diskutiert. Nach der im Oktober 2009 unterzeichneten Vereinbarung zwischen der Türkei und Armenien sollen auf dem Übergang hinter dem Dorf bald wieder Reisende und Güter verkehren. Wäre das nun gut oder schlecht für Alican? Die Bewohner von Ober-Alican sehen das ganz anders als die Menschen im benachbarten Unter-Alican.

Anwohner hoffen auf Arbeitsplätze

Kurdische Männer in Ober-Alican (Foto: DW/Susanne Güsten)
Kurdische Männer in Ober-AlicanBild: Susanne Güsten

Für Güven Güller, einen 28-jährigen Schlosser aus Ober-Alican, ist die Sache klar. "Die Grenze sollte geöffnet werden, das wäre für uns und für die ganze Provinz gut. Dann gäbe es hier endlich mal ein paar Arbeitsplätze, dann würde es hier besser," sagt er unter beifälligen Rufen seiner Freunde. Güven und seine Kumpels auf der Dorfstraße sind auf Urlaub in ihrem Dorf. Die Männer von Ober-Alican arbeiten die meiste Zeit im Jahr weit weg von zuhause, in der Westtürkei oder im Ausland, weil es in Alican und in der gesamten Provinz Igdir keinen Lohn und kein Brot gibt.

Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Enkommen von umgerechnet etwa 200 Euro im Monat gehört Igdir zu den ärmsten Gegenden der Türkei. In Alican gibt es nichts außer ein wenig Landwirtschaft. Deshalb arbeitet Güven im irakischen Erbil, mehr als 400 Kilometer Luftlinie südlich von seinem türkischen Heimatdorf entfernt, und kommt nur selten nach Hause. "Wenn die Grenze zu Armenien geöffnet würde und sich hier etwas wirtschaftlich regen würde, dann könnte ich bleiben und ein Geschäft eröffnen", meint Güven.

Solidarität mit Karabach

Bauer Salim in Unter-Alican(Foto: DW/Susanne Güsten)
Bauer Salim in Unter-AlicanBild: Susanne Güsten

Solche Argumente lässt man nebenan in Unter-Alican nicht gelten. "Bevor Armenien nicht aus Karabach abzieht, darf die Grenze nicht geöffnet werden. So denken wir", sagt der alte Bauer Salim. Er sieht nicht ein, warum die Türkei die Grenze öffnen soll, wo doch die Armenier immer noch Teile des Staatsgebietes des türkischen Verbündeten Aserbaidschan besetzt halten - die Enklave Berg-Karabach, die in den frühen neunziger Jahren von Armenien angegriffen wurde. Nach grausamen Massakern auf beiden Seiten schlossen die Länder 1994 einen Waffenstillstand, doch die Armenier blieben in Karabach. 1993 schloss die Türkei aus Protest gegen Armenien die Grenze. "Solange Karabach besetzt ist, darf die Grenze nicht geöffnet werden", sagt der Bürgermeister von Unter-Alican, Kenan Önal.

Ober-Alican und Unter-Alican trennen nicht nur 1500 Meter staubiger Feldweg, sondern auch Sprache, Kultur, Religion und Geschichte. Ober-Alican ist ein kurdisches Dorf, in Unter-Alican leben Azeri-Türken – Angehörige einer eng mit dem aserbaidschanischen Volk verwandten türkischen Minderheit, die überwiegend in der Grenzprovinz Igdir verwurzelt ist. Rund zwei Drittel der Bevölkerung sind Azeri in dieser Region, das übrige Drittel Kurden. Und entlang dieser ethnischen Unterschiede verlaufen auch die Meinungsverschiedenheiten beim Thema Armenien.

Kurden und Azeris denken unterschiedlich

Armenier demonstrieren gegen die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Oktober 2009 (Foto: AP)
Armenische Proteste im Oktober 2009Bild: AP

Eine entsprechend erregte Wendung nimmt die Diskussion in Unter-Alican auch, als ein kurdischer Lieferant aus einem Nachbardorf dazutritt. Eine Grenzöffnung könne der ganzen Osttürkei doch einen wirtschaftlichen Aufschwung bescheren, meint der Mann. "Aber weil die Azeris hier so rassistisch denken, wird nichts daraus. Wir Kurden wollen das alle, aber die Azeris sind dagegen, weil ihren Landsleuten in Karabach Unrecht angetan wird. Das ist doch Rassismus." Der Kurde schwingt sich in seinen Lieferwagen und fährt davon.

Der Mann habe leicht reden, sagt Bürgermeister Önal, als der Wagen verschwunden ist. "Diese Kurdensippen wollen alle, dass die Grenze aufgemacht wird, aber die haben eben auch mit nichts was zu tun. Bei uns ist das anders: Die Azeri in Karabach stammen aus meinem Volk, die Menschen, die da unterdrückt werden, sind meine Leute." Dabei weiß Önal, dass er mit seiner Haltung einen möglichen Aufschwung ausschlägt. "Niemand lebt näher an der Grenze als wir hier, niemand würde mehr von der Öffnung profitieren als wir – aber wir wollen das nicht, bevor Armenien aus Karabach abgezogen ist."

Eine Meinung, die zwar von den meisten Azeri in der Grenzregion geteilt wird, aber nicht von allen. Vor allem unter den jüngeren Azeri gibt es einige, die anders denken und einen Neubeginn mit den Armeniern wagen wollen – sogar in Unter-Alican, wie die junge Bauersfrau Sibel Baglamli. "Wenn es nach mir ginge, würde die Grenze geöffnet. Diese alten Feindschaften müssen doch endlich begraben werden."

Autor: Susanne Güsten
Redaktion: Peter Koppen/Heidi Engels