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Kohleausstieg: Lassen sich die Umsiedlungen verhindern?

28. September 2018

In deutschen Braunkohlegebieten werden viele Dörfer geräumt und Bürger umgesiedelt. Für die Kohle – und oftmals gegen den Willen der Bewohner. Die hoffen auf einen rechtzeitigen Kohleausstieg. Ein Stimmungsbild.

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Abriss der Kirche in Immerath am 8.1.2018 (Foto:picture-alliance/dpa/H. Kaiser)
Abriss der Immerather Kirche am 8.1.2018. Es gibt Zweifel, ob die Kohle darunter überhaupt noch gefördert wird. Bild: picture-alliance/dpa/H. Kaiser

"Viele Leute sterben hier vor Kummer", sagt Helmut Kehrmann sichtlich bewegt. Kummer, weil sie ihre Heimat verlassen müssen. Kehrmann wohnt in Keyenberg. Der Ort hat rund 800 Einwohner, wurde erstmalig 893 urkundlich erwähnt und soll laut RWE noch für die Braunkohlegewinnung geopfert werden. Bis Ende 2026 müssten dafür alle Bewohner ihre Häuser verkauft und verlassen haben.

"Ich will nicht mehr"

Besonders hart betroffen sind vor allem die älteren Bürger. "Mein Nachbar war innerhalb weniger Wochen sieben Mal auf Beerdigungen." Normal, sei das nicht mehr, so Kehrmann. "Aber viele der älteren Leute sagen: Ich will das nicht mehr."

Hilde und Helmut Kehrmann bei einem Gottesdienst am Tagebau Garzweiler (Foto: DW/G. Rueter)
Hilde und Helmut Kehrmann bei einem Gottesdienst für Klimagerechtigkeit im Hambacher Wald Bild: DW/G. Rueter

Es ist die Seele, die Psyche, die oft nicht mehr Stand hält oder nicht mehr standhalten will. Der Schmerz über die erzwungene Umsiedlung, den Verlust von Heimat und Haus, die zerstörte Nachbarschaft und auch die materielle Existenz. "Es trifft vor allem auch die Menschen, die schon seit Generationen hier Höfe besitzen. Die wissen nicht, wie es weitergehen soll", sagt Monika Krüger, die ebenfalls in Keyenberg zuhause ist. 

Verlorene Existenz

Aber auch die Jüngeren leiden unter der Umsiedlung. In den Geschäften bleiben die Kunden aus, weil umliegende Dörfer abgebaggert werden. Die Existenzgrundlage geht verloren. "Die zwei kleinen Supermärkte gibt es hier nicht mehr, weil es sich nicht mehr rentiert. Und der Wirt sitzt abends ohne Gäste da", erzählt Krüger. "Ist das nicht schlimm?"

Die Folge seien oft Krankheit und Depressionen – so auch das Schicksal eines ihr gut bekannten Versicherungsvertreters aus dem inzwischen zerstörten Nachbarort Immerath: "Er ist so krank geworden, dass er keine Ruhe mehr gefunden hat und nachts durch die Straßen gelaufen ist vor Sorge." Denn mit den Umsiedlungen seien ihm auch die Kunden weg geblieben. 

Monika Krüger aus Keyenberg mit ihrem Hund (Foto: DW/G. Rueter)
Monika Krüger fühlt sich wohl in Keyenberg und möchte ihr Dorf nicht verlassenBild: DW/G. Rueter

Hambacher Wald: "Jede Unterstützung verdient"

Monika Krüger, Hilde und Helmut Kehrmann zeigen sich solidarisch mit der Protestbewegung im Hambacher Wald. Durch die jungen Klimaaktivisten gäbe es mehr Hoffnung, mehr Berichte über die Folgen des Braunkohletagebaus – auch über die Vertreibung aus den Dörfern und das damit verbundene Leid. 

"Ich finde das hier grundsätzlich gut. Eigentlich müssten die Bewohner von ganz Keyenberg hier auf den Bäumen sitzen und nicht die jungen Leute", sagt Hilde Kehrmann nach einem Gottesdienstbesuch für Klimagerechtigkeit im Hambacher Wald. "Die jungen Leute haben jede Unterstützung verdient. Sie wissen, dass wir die Erde brauchen. Wenn wir so weiter machen, können unsere Enkel nicht mehr auf dieser Welt leben. Braunkohle ist einfach nicht mehr erforderlich."

Mehr dazu: Braunkohle wird immer weniger gebraucht

Familie Winzen mit zwei Hunden
Romy, Norbert und Monika Winzen wollen keine Zerstörung von Heimat und HofBild: DW/G. Rueter

Letzte Chance

"Wir leben hier mit einer Großfamilie – drei Generationen, elf Personen – in einem denkmalgeschützten Hof von 1863. Das ist ein besonderer Ort, über Generationen aufgebaut", sagt Norbert Winzen aus Keyenberg.

Wenn seine Familie das Anwesen mit rund 8000 Quadratmetern jetzt für den anrückenden Tagebau verkaufen muss, "dann können wir so nicht mehr weiter leben. Wir müssten uns als Großfamilie aufsplitten. Wir werden nicht die Chance haben, einen solch großen Ort aus alten Gemäuern neu aufzubauen, dafür reicht die Entschädigung und unser finanzielles Vermögen nicht".

Die Winzens hoffen und setzen auf den zügigen Kohleausstieg. Wird dieser jetzt beschlossen und umgesetzt, dann bestünde eine gute Möglichkeit Hof und Keyenberg zu retten. 

Google Maps-Ansicht von Garzweiler mit angrenzenden Orten (Grafik: DW)
Trotz Kohleausstieg? RWE will Häuser in Keyenberg, Ober- und Unterwestricht , Kuckum und Beverath schnell aufkaufen.

Unnötiger Druck von RWE

Man sollte meinen, RWE kenne das Pariser Klimaabkommen und wüsste damit, dass der Kohleausstieg notwendig ist. Nicht zuletzte sollte sich das Energieunternehmen auch über die Folgen von Zwangsumsiedlungen bewusst sein. 

Doch anstatt den Bewohnern etwas Ruhe zu gönnen und die Pläne der Kohlekommission bis Dezember abzuwarten, "erhöht RWE massiv den Druck in den Verhandlungen mit den von Umsiedlungen betroffenen Menschen und drängt auf kurzfristige Entscheidungen", meint Winzen. "Unser Dorf soll anscheinend rasend schnell vereinnahmt und für die Bewohner unattraktiv gemacht werden. Dabei ist klar, dass die Braunkohle nicht wie im geplanten Umfang weiter gefördert werden wird." Für die Bürger sei dies alles nicht mehr nachvollziehbar.  

Deutsche Welle Anfragen nach den Gründen für diese Verhalten beantwortete RWE bis dato nicht. Auch die Nachfrage, ob das Unternehmen mit den erworbenen Immobilien und Flächen nach dem Ende der Tagebaue noch andere Interessen verfolgen könnte, blieb ohne Reaktion.

Hannelore Wodtke, Antje Grothus und Jens Hausner. (Foto: Jens Hausner)
Zwangsenteignungen: Hannelore Wodtke, Jens Hausner und Antje Grothus berichten darüber in der Kohlekommission.Bild: Jens Hausner

Antje Grothus ist Vertreterin der vom Tagebau betroffenen Anwohner in der Kohlekommission. Sie findet das Bedrängen der Bewohner durch RWE vollkommen unnötig. "Menschen jetzt noch aus ihrer Heimat zu vertreiben ist nicht in Ordnung und nicht redlich. Derzeit weiß keiner, ob die Kohle unter den Dörfern überhaupt jemals noch gefördert wird", so Grothus gegenüber der DW.

Würde die Vertreibung und Enteignung auf Grundlage des Bergrechts weiter betrieben – aber auch andere finanzielle Interessen von RWE verfolgt – so wäre dies für Grothus "ein Skandal". Die Menschen vor Ort "haben davor große Angst", sagt sie.

Sollten die von RWE bereits erworbenen Häuser und Flächen nicht mehr für den Tagebau gebraucht werden, gibt es für die Betroffenen bisher kein Recht, diese wieder zurückzubekommen. Die Rechte der vom Bergbau Betroffenen müssen deshalb "unbedingt besser geschützt werden", findet Grothus. Doch bisher seien die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und die Bundesregierung nicht aktiv geworden.

"Hambi bleibt!" - Deutschland und die Kohle

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Gero Rueter Redakteur in der Umweltredaktion