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Politik

Afghanistan: Abschiebepraxis der EU-Staaten

Teri Schultz jmw
12. Oktober 2018

Aktivisten fordern von den EU-Staaten, die Abschiebungen nach Afghanistan zu stoppen. Die Gewalt gegen Zivilisten steigt wieder und trotzdem wollen einige Regierungen Asylsuchende weiter dorthin zurückschicken.

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Samira Hamidi, Amnesty International (Foto: DW/T. Schultz)
Samira Hamidi protestiert vor dem Europaparlament: Keep Afghans SafeBild: DW/T. Schultz

Samira Hamidi von Amnesty International kennt die Situation von Afghanen in ihrer Heimat nur zu gut. Dort heißt es oft: Leben oder Tod. Hamidi lebt in dem von Krieg gebeuteltem Land schon ihr ganzes Leben lang. Die meiste Zeit arbeitete sie dort als Aktivistin für Frauenrechte, bevor sie vor einigen Monaten im Südasien-Büro von Amnesty International als Regionalbeauftragte anfing. "Du verlässt am Morgen das Haus und weiß nicht, ob du sicher und in einem Stück zurück kommst", sagt Hamidi.

Diese Angst zeigt sich auch in der Statistik, die die UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA) kürzlich veröffentlichte. Sie zeigt, dass in diesem Jahr schon mehr Menschen getötet wurden als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Die Wahrscheinlichkeit zu überleben ist für die Menschen, die nicht auf den rauen Straßen Afghanistans aufgewachsen sind, noch geringer. Das ist einer der Gründe, warum Hamidi die Kampagne #KeepAfghansSafe (Haltet Afghanen sicher) von Amnesty leitet. Sie will die Zwangsrückführungen von Afghanen aus Ländern der Europäischen Union aussetzen.

"Ungerecht und unfair"

"Afghanistan ist extrem instabil", sagt Hamidi der DW auf einer Demonstration in Brüssel. "Minderjährige - kleine Jungen und Mädchen, die noch nicht einmal in Afghanistan geboren wurden, in ein Land zu schicken, das sie nicht kennen; Menschen zurückzuschicken, die lange und schwierige Reisen auf sich genommen haben, um ein besseres Leben zu finden - das ist ungerecht und unfair."

Amnesty hat Fälle von Rückkehren aus Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und Schweden dokumentiert. Zurück in Afghanistan, wurden einige von ihnen getötet. Praktisch alle lebten in kontinuierlicher Angst. "Zu den aus Europa gewaltsam zurückgeschickten Afghanen gehören unbegleitete Kinder und junge Erwachsene, die zu der Zeit ihrer Ankunft in Europa Kinder waren", heißt es in dem Bericht. "Einige Menschen, die Amnesty International für den Bericht interviewt hat, wurden in Regionen Afghanistans geschickt, die sie nicht kennen - abgesehen von der gefährlichen Situation und Straffreiheit für Verbrechen wie zum Beispiel Folter."

Zahl der Abschiebungen nach Afghanistan steigt

Die Art, wie afghanische Asylsuchende behandelt werden, variiert stark zwischen den EU-Ländern. Der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) hat einen Bericht erstellt, der die aktuelle Politik "ungleichmäßig" nennt. 2016 stieg die Zahl der Abschiebung von Afghanen indes deutlich an.

Abgeschoben - und dann?

ECRE beschreibt Norwegen als ein Land, das irgendwie "stolz" zu sein scheine, eines der "striktesten Länder in Europa" gegenüber Afghanen geworden zu sein. Dagegen gab es aus Deutschland seit 2005 "fast keine Abschiebungen nach Afghanistan", so ECRE. Doch im Dezember 2016 begann die deutsche Regierung Afghanen als Gruppe auszumachen, die abgeschoben werden könnte. Als die Gewalt in Afghanistan wieder anstieg, wurden 2017 die Abschiebungen zwar kurz ausgesetzt. Anschließend hoben Flugzeuge mit abgelehnten Afghanen wieder ab - laut Amnesty international sind seit Dezember 2016 in 15 Sammelabschiebungen rund 350 Afghanen abgeschoben worden. Derzeit schiebt Deutschland nach Angaben der Bundesregierung nur sogenannte Gefährder und Kriminelle ab.

Der ECRE-Bericht macht noch etwas anderes deutlich: Es gibt Hinweise, dass viele dieser abgeschobenen Afghanen gut integriert waren, Deutsch gelernt und Jobs gefunden hatten. Diejenigen, die Norwegen verlassen mussten, waren meistens gerade erst angekommen.

Kinder nach Afghanistan zurück

ECRE weist zudem auf norwegische Presseberichte hin, laut denen Norwegen mehr Kinder nach Afghanistan gebracht habe als jedes andere Land - 37 allein in diesem Jahr. Ein Artikel in "Norway Today" zitiert das afghanische Flüchtlingsministerium: Dänemark, Frankreich, die Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz und Großbritannien hätten bilaterale Abkommen unterzeichnet, um abgelehnte Asylsuchende zurückzuschicken. Norwegen und die Niederlande gaben 2016 zu, auch Kinder abzuschieben.

Die niederländische EU-Abgeordnete Judith Sargentini von der Fraktion der Grünen wirft unterdessen den Regierungen in der Europäischen Union vor, mit den Abschiebungen in ein Kriegsgebiet ihre eigenen Gesetze zu brechen. EU-Staaten, die Afghanen zurückschicken, verletzten den völkerrechtlichen Grundsatz der "Nichtzurückweisung" - die unfreiwillige Ausweisung einer Person in ein Gebiet, "wo Gefahr für ihr Leben oder ihre Freiheit besteht".

Judith Sargentini, EU-Abgeordnete (Foto: DW/T. Schultz)
Judith Sargentini will, dass die Abschiebungen nach Afghanistan aufhörenBild: DW/T. Schultz

Sargentini war es auch, die vor zwei Jahren das zwischen Brüssel und Kabul unterzeichnete "Joint Way Forward"-Abkommen lautstark kritisierte. Sie bezeichnete den Vertrag als aussichtsreiche Entwicklungshilfe, der EU-Regierungen die Rückführung abgelehnter Asylbewerber erleichtert.

"Es ist verrückt", sagt sie der DW. "Die 'Joint Way Forward'-Vereinbarung schlug vor, dass wir ein komplettes Reintegrationssystem einrichten würden. Aber wie 'integriert' man Menschen in ein Land, das jeden Tag unsicherer wird? Menschen, die einfach nicht dort sein wollen? Das ist einfach unmöglich." Sargentini fügt hinzu, dass sie Geschichten von abgeschobenen Jugendlichen gehört hat, die zwischen Heroinsüchtigen unter der Brücke schlafen.

Tod und Verfolgung in der alten Heimat

Najeeb Azad hat solche Geschichten auch gehört. Der 26-jährige Afghane absolviert derzeit ein Master-Studium in Amsterdam. "Es gab einen Rückkehrer aus Großbritannien, der in Afghanistan umgebracht wurde", sagt Azad. "Ein anderer wurde aus Hamburg zurückgeschickt und beging Suizid in Kabul."

Azad selbst konnte seine Heimat Gasni seit neun Jahren nicht mehr besuchen. Er gehört zu der ethnischen Minderheit der Hazara. Seine ganze Familie musste vor den Taliban fliehen, berichtet er der DW. "Jetzt habe ich Familie in London und Australien - nach Australien kamen sie per Boot", sagt Azad. Derzeit fordert die Gewalt Opferzahlen in Rekordhöhe. "Wir machen uns die ganze Zeit Sorgen, wenn es Explosionen gibt", so Azad. "Wir rufen immer wieder jeden einzelnen Freund an." Für seine Landsleute ist er der #KeepAfghansSafe-Kampagne beigetreten.

Vielleicht wird sein Einsatz Wirkung zeigen. Laut Anis Kassar, Sprecher des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, würden die EU-Regierungen in diesem Jahr mehr Plätze für afghanische Asylsuchende zur Verfügung stellen. Zudem hätten im vergangenen Jahr 30 Prozent der Afghanen in dem Land bleiben dürfen, in dem sie um Asyl gebeten haben, so Kassar. Für die ersten sechs Monate von 2018 sei die Zahl auf 43 Prozent gestiegen.