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Über eine Aphorismenlesung

8. Januar 2010

Über Buchsortiersysteme, Literatur-Roboter oder Schriftsteller als Autofahrer: hier schreibt Thomas Böhm Kolumnen aus dem Lesealltag.

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Symbolbild "Buchmanieren"
Bild: DW

Das denkwürdigste Angebot, das ich in meiner Hauptbeschäftigung als Veranstalter von Lesungen bekommen habe, war eine Aphorismenlesung. "Sie wissen doch", belehrte mich ein mir bis dahin unbekannter Anrufer, "Aphorismen sind geballte Ergebnisse von Denkvorgängen, gerundet, gefeilt und kunstvoll ins geschliffene Wort gebracht." Diese Aphorismusdefinition stamme übrigens von Friedrich Witz. Ich verkniff mir einen Namenskalauer und ließ mich von Berufswegen auf die Diskussion ein: Wie könne denn eine Aphorismenlesung aussehen? Antwort: "Zwischen Aphorismen zu diversen Themen werden Aphorismen über Aphorismen gelesen. Da gibt es wunderbare", so der Anrufer. "Hören Sie mal...."

Und er legte los

"Aphorismen sind Betätigungen des sich ausruhenden Geistes - Heinrich Gerland.

Aphorismen sind die Einfälle der Philosophen - Marquis de Vauvenargues.

Aphorismen sind die Lyrik der Vernunft - Erwin Chargaff.

Aphorismen: Hobelspäne vom Baum der Erkenntnis - Hanns-Hermann Kersten.

Aphorismen sind auf Entlarvungen aus - Hugo Ernst Käufer.

Thomas Böhm, Programmleiter des Kölner Literaturhauses (Foto: Birgit Rautenberg)
Thomas Böhm, Programmleiter des Kölner LiteraturhausesBild: birgit rautenberg

Aphorismen: kleine geistquälende Quälgeister - Gabriel Laub, von dem auch der Aphorismus stamme: Aphorismen entstehen nach dem gleichen Rezept wie Statuen: Man nehme ein Stück Marmor und schlage alles ab, was man nicht unbedingt braucht."

Ich hörte mein Gegenüber Luft holen, ging in seine Atempause. Mir schwirre schon nach 40 Sekunden der Kopf von Gedanken und mir unbekannten Namen, wer solle das 40 Minuten aushalten? Niemand läse ja eine Aphorismensammlung von vorne nach hinten.

Was übrig bleibt

Glücklich darüber, dass mir dieses entwaffnende Argument eingefallen war, wartete ich darauf, dass nun das Angebot zurückgezogen wurde. Mitnichten: In einer Zeit, in der das Denken immer mehr verdrängt würde, in der Politiker mit ihren Sprüchen die Köpfe verklebten, die Werbesprache eine pervertierte Aphoristik sei, da müsse man doch den klaren, unbequemen Gedanken einen Platz einräumen. Denn – ich hörte, wie er wieder in den Aphorismusmodus wechselte: "Aphorismen sind Ansätze, die keine Angst haben, stecken zu bleiben." Ich versuchte nochmals an sein Formbewußtsein zu appellieren, schließlich liege doch beim Aphorismus die Würze in der Kürze, doch am anderen Ende der Leitung war etwas eingerastet. Der letzte Satz, den ich verstand war: "Aphorismen sind, was übrig bleibt, wenn alles Wichtige nicht gesagt wird."

Autor: Thomas Böhm
Redaktion: Gabriela Schaaf