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10 Jahre nach dem Terror in London

Mike Power/jsem7. Juli 2015

Als die Londoner am Morgen des 7. Juli 2005 aufwachten, war noch alles normal. Einen Tag zuvor hatte sich Großbritannien die Olympischen Spiele 2012 gesichert. Am späten Morgen war alles anders. Mike Power aus London.

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Ein Helfer begleitet eine verletzte Frau aus der U-Bahn-Station nach den Anschlägen in London 2005. (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/dpaweb/Parnaby

Vor zehn Jahren war Alex Marshall 34 Jahre alt und Chefkoch. Er fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit im Woburn Conference Centre am Tavistock Square, ein eleganter zentraler Ort in London, der einst das Zuhause von Charles Dickens war. Als er gerade das Essen vorbereitete, berichteten die Nachrichten über ein großes elektrisches Problem in der U-Bahn.

Es stellte sich schnell heraus, dass die angeblichen Kurzschlüsse in Wirklichkeit Selbstmordattentäter waren. Kurz vor zehn Uhr morgens gab es eine weitere Explosion. Diese war näher und oberirdisch. "Ich stand draußen und habe eine Pause im Treppenhaus gemacht, etwa 20 Meter weit weg, als die Explosion über meinen Kopf hinweg fegte", sagt Marshall.

Der 18-jährige Hasib Husain aus Leeds hatte sich selbst und 13 Passagiere in einem Bus getötet. Das Dach des Busses wurde komplett weggesprengt.

Eine Bombe zerstörte diesen Doppeldeckerbus bei den Terroranschlägen 2005 in London. (Foto: dpa)
London will sich von den Terroranschlägen nicht einschüchtern lassenBild: picture-alliance/dpa/P. Macdiarmid

Grausame Szenen

"Ich bin hingegangen. Es lagen überall zerfetzte Körperteile", sagt Marshall. Der Chefkoch konnte Erste Hilfe leisten und rannte zur Küche, holte Hunderte von Operationshandschuhen, die er für die Zubereitung von Essen benutzt und Geschirrtücher als Druckverband. Er holte Tische von seinem Arbeitsplatz, um diese als provisorische Krankentrage zu nutzen und rannte zwischen den Verletzten umher, um den Ärzten zu helfen.

Im darauffolgenden Jahr schlief er kaum und schaute wie besessen Nachrichten, erzählt Marshall. Heute arbeitet er immer noch am Tavistock Square. "Ich wollte London nie verlassen, weil mich das zum Opfer machen würde. Und das möchte ich nicht sein", sagt er. "Wenn du aufhörst, zu tun, was du tust, bekommen die Terroristen was sie wollen", sagt Marshall. "Es ist besser zu sagen: Wir haben keine Angst, ihr werdet uns nicht ändern. Wir werden einfach weitermachen."

Politische Rhetorik

Im Gegensatz zu Marshalls persönlicher Haltung wurde die politische Rhetorik seither jedoch nationalistischer. Premierminister David Cameron erklärte im Nationalen Sicherheitsrat im Mai: "Zu lange waren wir eine sehr passive, tolerante Gesellschaft, die zu ihren Bürgern sagt: 'So lange ihr die Gesetze befolgt, lassen wir euch in Ruhe.' Es wird oft gedacht, dass wir neutral zu verschiedenen Werten stehen. Das hat dazu beigetragen, dass der Extremismus mehr wurde. Die Regierung wird die bisherige Politik ändern, weil ihr Ansatz gescheitert ist", so Cameron.

Großbritannien gehört bereits zu den meistüberwachten Staaten der Welt. Nach einer Schätzung der British Security Industry Authority (dem Aufsichtsorgan der Britischen Sicherheitsbranche) aus dem Jahr 2013, gibt es mindestens fünf Millionen Kameras in ganz Großbritannien.

Gus Hosein von Privacy International, einer Menschenrechtsorganisation mit Sitz in London, ist der Meinung, dass die verstärkte Überwachung keine höhere Sicherheit garantiert: "Fast jeder Terroranschlag, den Regierungen als politische Rechtfertigung für mehr Überwachung genutzt haben, war unter der Beteiligung von Personen, die bereits überwacht wurden", sagt er.

Stärkere Überwachung

Der Polizist John Corr, der bei der Explosion an der U-Bahn-Station Russel Square dabei war, ist dagegen der Ansicht, dass London sich nach den Terroranschlägen geändert habe - zum Besseren - und dass eine stärkere Überwachung sich lohne: "Menschen nehmen nicht immer wahr, wer um sie herum ist. Aber die Menschen achten jetzt ein bisschen mehr aufeinander."

Corr glaubt, dass weniger Privatsphäre ein Preis sei, den er bereit sei, für Sicherheit zu bezahlen. "Ich weiß, die Menschen sagen: 'Ich möchte nicht, dass meine E-Mails gelesen werden' oder andere Sachen. Die Leute können von mir alles lesen, was sie wollen. Und wenn das dazu beiträgt, dass nur eine Person gerettet wird, dann lohnt sich das für mich. Ich möchte so etwas wie den 7. Juli 2005 nicht mehr erleben."

Positive Maßnahmen

Sajda Mughal wurde in Kenia geboren. Ihre Eltern waren vor dem Regime Idi Amins in Uganda geflohen. Kurz danach zog die Familie nach London.

Sie war 22 Jahre alt, als sie in der Piccadilly Linie saß, in der der 19-jährige Germaine Lindsey 26 Passagiere und sich selbst tötete. Mughal hat überlebt. In den Jahren danach opferte sie ihre berufliche Karriere, um mit ihrer Stiftung "JAN Trust" junge Muslime davor zu bewahren, sich online zu radikalisieren.

Mughal ist selber Muslimin und sieht die Darstellung des Islam in den Medien nach dem Terroranschlag kritisch: "Einige Medien schüren Islamfeindlichkeit. Eine Boulevardzeitung berichtete vor Kurzem: 'Horror: Konvertierter Muslim enthauptet eine Frau im Garten.' Aber dann stellte sich heraus, dass der Angeklagte schizophren war", berichtet sie der DW per Mail.

Als 2011 eine Umfrage einen Mangel an IT-Grundkenntnissen von 350 muslimischen Müttern aufdeckte, entwickelte Mughal ein weltweit einzigartiges Programm, das es Müttern ermöglichen soll, gegen Online-Radikalisierung vorzugehen - das sogenannte "Web Guardians Program".

"Es hat zum Ziel, Müttern praktische Online-Kenntnissen zu vermitteln, ihnen das Thema Online-Radikalisierung näher zu bringen und sie in die Lage zu versetzen, die Gefühle ihrer Kinder positiv zu beeinflussen", sagt sie. "Wir hatten großen Erfolg mit unserem Programm. Mütter haben sich bei uns bedankt, wir hätten ihre Kinder gerettet."

Polizei am Tavistock Square in London nach dem Terroranschlag 2005 (Foto: dpa)
Die Polizei am Tavistock Square nach den TerroranschlägenBild: picture-alliance/dpa/Wimsett

Unter den 38 Todesopfern der Terror-Anschlägen vom 26. Juni in Tunesien waren auch 30 Briten. Die Politik fühlte sich daher verpflichtet, entschlossenes Handeln zu zeigen, um die verängstigte Öffentlichkeit zu beruhigen. Aber Überlebende des Londoner Terroranschlags, denen man wohl am ehesten Gefühle wie Angst und Wut zugestehen würde, äußern sich zurückhaltend.

George Roskilly arbeitete im Juli 2005 als Hausverwalter. Der Zufall brachte ihn eineinhalb Meter nah an die Explosion in dieselbe brechend volle Piccadilly Linie wie Sajda Mughal. "Ich dachte zuerst, dass wir mit einer U-Bahn zusammengestoßen sind. Es war plötzlich stockdunkel. Es wurde viel geweint, geschrien, gestöhnt und gebetet. Ich dachte: 'Kein Fahrer. Rauch strömt herein. Das war's. Hier endet alles für dich, George", erzählt er.

Er saß still und wartete. Dann leitete eine Stimme aus der Lautsprecheranlage die Passagiere entlang der Bahnlinien hinaus. "Ich war so euphorisch, als ich begriff, dass ich es wohl schaffen werde - unbeschreiblich. Ich war überglücklich," erzählt Roskilly.

Die Schuld der Überlebenden

Roskilly, mittlerweile 72 Jahre alt, erinnert sich noch an die Szenen in der Station, in der er warten musste, nachdem er sich durch die Tunnel in Sicherheit gebracht hatte.

"Die Türen des Aufzugs öffneten sich und eine Trage kam heraus. Es lag etwas darauf, schwarz, komplett schwarz. Man konnte nur erahnen, was es war. Keine Beine, von den Knien an. Dann öffneten sich die Türen wieder und jemand anderes kam heraus, ohne Beine. Und dann wieder jemand anderes, diesmal ohne Füße. Sie haben die Tragen einfach neben mich gelegt. Ich dachte: 'Das ist verrückt, es reicht mir.' Und dann habe ich einen Polizisten gefragt, ob ich gehen kann."

Jahrelang hat Roskilly sich schuldig gefühlt, dass er überlebt hat. "Ich war damals 62 und diese Leute, die direkt von der Explosion getroffen wurden, waren alle jünger als ich. Sie sind gerade erst ins Leben getreten und von Bomben zerfetzt worden. Ich habe mich gefragt, warum ich entkommen bin und sie nicht. Ich dachte: 'Das kann nicht richtig sein."

Über ein Jahr ging es ihm gut, sagt er. Aber eines Tages, als er seine Enkelkinder besuchte, fing eines von ihnen an zu weinen. Dieses Geräusch löste bei ihm lange unterdrückte Erinnerungen aus und er erlitt einen Zusammenbruch. "Es wurde sehr viel geweint in den ersten Minuten im Tunnel," sagt er mit gepresster Stimme.

Symbolbild Muslimische Mütter sitzen auf einer Bank (Foto: dpa)
Muslimische Mütter können dabei helfen, Online-Radikalisierung zu bekämpfenBild: Getty Images/AFP/P. Ellis

Im nächsten Jahr schaffte Roskilly es durch psychologische Beratung, das Trauma, an dem er litt, anzusprechen. Heute besteht er darauf, dass Londons schlimmster Terroranschlag auch etwas Gutes hatte.

"Ich habe durch diesen Tag Freunde fürs Leben gefunden. Ich hätte diese Leute sonst nie kennen gelernt. Es gab viel mehr positive Dinge, die dieser Tag für mich gebracht hat, als negative", sagt er. "Und am Ende haben wir gewonnen. Weil wir unser Leben oder unsere Denkweise nicht wegen der Terroristen verändert haben. Wir haben gewonnen."