1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

100 Jahre Österreich

12. November 2018

Österreich wird 100. Eine Rückkehr zur Monarchie hatte politisch nie eine Chance, doch nach wie vor zelebrieren die Österreicher eine "klebrige Nostalgie", meint der Wiener Zeitgeschichtler Florian Wenninger.

https://p.dw.com/p/386K2
Traditionelle Kutsche in Wien, Fiaker
Nostalgie - beeinflusst durch touristischen MarketingBild: Reuters/H. Bader

DW: Vor 100 Jahren, mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ging das Habsburger Reich unter - ein europäischer Machtfaktor über Jahrhunderte. Wie viel "Grandezza" des alten Reiches steckt heute noch im neuen, kleinen Österreich?

Florian Wenninger: Besonders glanzvoll war das Leben für die breite Mehrheit der Zeitgenossen im Habsburger-Reich ohnehin nicht gewesen. Durch das Leid und Elend, das der Erste Weltkrieg verursachte, diskreditierte sich die Monarchie in weiten Teilen der Bevölkerung. Selbst die kaisertreueste Gruppe, die Bauernschaft, drängte 1918 auf eine Absetzung - nicht nur des Kaisers, sondern des monarchischen Systems.

Seit den 1950er Jahren hat sich, beeinflusst nicht zuletzt durch touristische Marketing-Überlegungen, eine klebrige Nostalgie entwickelt: Die schmucke Sissi, der schneidige Franz Josef. Das war mit gutem Grund aber erst möglich, als die Generation, die das Kaiserpaar tatsächlich erlebt und reichlich negativ in Erinnerung behalten hatte, auszusterben begann.

Politisch hatte das ohnehin nie einen Niederschlag gefunden: Seit den ersten freien Wahlen 1919 hat in Österreich nie eine monarchistische Gruppierung irgendeinen nennenswerten Erfolg verbuchen können.

Die Rückschau an einstige Größe wird immer auch politisch bestimmt. In Österreich wurde vor und um das Jubiläum herum heftig um das "richtige Erinnern" gerungen. Welches Geschichtsbild hat sich durchgesetzt?

Merkwürdigerweise eines, das die große Errungenschaft des Jahres 1918 - die Republik mit ihren ganz enormen demokratischen und sozialen Errungenschaften - als letztlich "gescheitertes" Projekt interpretiert. Dabei wird übersehen, dass diese Erste österreichische Republik ja nicht einfach unterging, sondern von antidemokratischen Kräften unter Bruch der geltenden Verfassung mit Gewalt beseitigt wurde.

Dr. Florian WenningerUniversität Wien
Dr. Florian Wenninger von der Universität WienBild: Jürgen T. Sturany

Welchen Stellenwert nimmt der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 in der heutigen Diskussion ein - Stichwort "Austrofaschismus"?

Der "Anschluss" an das Dritte Reich bestand im Grunde aus zwei parallelen Vorgängen: Aus einer militärischen Invasion von außen, und aus einer gleichzeitigen Machtübernahme durch heimische Nazis. Nach 1945 haben österreichische Regierungen aus recht pragmatischen Überlegungen lange nur von einer Okkupation gesprochen - auf diese Weise war das Land nicht haftbar zu machen für die Schäden und Verbrechen, die man als Teil des NS-Regines mitverursacht hatte. In Österreich selbst war dagegen recht klar, was 1938 vor sich gegangen war.

Das heikle historische Thema war die Zeit davor: 1933 hatte eine demokratisch legitimierte, von den Christlichsozialen geführte Regierung eine Diktatur errichtet und 1934 die Sozialdemokratie auch militärisch zerschlagen. Damals wurden hunderte getötet und mehr als zehntausend Menschen in Gefängnissen und Lagern interniert. Nach 1945 waren es die Bürgerkriegsgegner des Jahres 1934, die die Zweite Republik gemeinsam aufbauen mussten. Dazu war es notwendig, die austrofaschistische Diktatur der Jahre 1933-1938 nach Möglichkeit auszublenden. Und auch dafür war die Erzählung von Österreich als erstem NS-Opfer hilfreich: denn sowohl Sozialdemokraten als auch Christlichsoziale hatten nach 1938 unter dem NS-Regime zu leiden, fühlten sich also durchaus authentisch als dessen Opfer.

Deutsche und Österreicher pflegen mitunter ein pikantes Nachbarschaftsverhältnis. Was steckt eigentlich dahinter - was sind historisch gesehen die Fixpunkte dieser Sensibilitäten?

Das Konzept einer eigenständigen österreichischen Nation ist ein Paradoxon: denn einerseits ist diese Nation wie selbstverständlich eine "deutsche" Entität - die FPÖ plakatiert hier in Wahlkämpfen die Parole "Deutsch statt 'nix verstehn'!" - andererseits basiert das österreichische Selbstbewusstsein ganz stark darauf, nicht bundesdeutsch zu sein. Nichts sorgt in Österreich für mehr Emotion als Sportereignisse mit deutscher Konkurrenz - oder auch das als arrogant empfundene Verhalten deutscher Politiker.

Ich kann mich noch gut an den Fall der Berliner Mauer erinnern: damals saß ich mit meinem aufrichtig entsetzten Großvater vor dem Fernseher. Wir sahen die Menschenmassen, das Gebrüll "ein Volk, ein Volk" und ich hörte meinen Opa murmeln: "Jetzt sind die wieder wer. Jössas, jetzt sind die wieder wer!".

Adolf Hitler Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938 in Österreich
Hitler - begeistert begrüßt von Bewohnern WiensBild: picture-alliance/dpa

Unterm Strich ist das antideutsche Ressentiment wohl eine Mischung aus Kleinstaatkomplexen: Der Hotelier, der vor dem Gast buckelt und hinterrücks über ihn schimpft, antiprotestantische und antipreußische Vorbehalte und schließlich natürlich der Neid auf das einstmals hohe Wohlstandsniveau der Deutschen. Letzteres hat sich in den vergangenen Jahren ja aber ins Gegenteil verkehrt: plötzlich sind die Österreicher die Wohlhabenderen. Die Existenz ostdeutscher Gastarbeiter in der heimischen Gastronomie wurde nicht ohne Schadenfreude vermerkt.

Österreich - geografisch, politisch und kulturell ein klassisches mitteleuropäisches Land - zeigt sich, nicht nur aus deutscher Wahrnehmung, aktuell eher als Sympathisant der EU-kritischen Polen und Ungarn. Wie steht es um die Vermittlerqualitäten Österreichs in stürmischen EU-Zeiten?

Auf Vermittlerqualitäten würde ich unter der derzeitigen Regierung nicht  bauen. Die kocht ihr eigenes innenpolitisches Süppchen, treibt den Sozialabbau voran und versucht zugleich den Eindruck zu vermitteln als seien unser Hauptproblem die armen Teufel, die übers Mittelmeer kommen. Die EU, an der es weiß Gott genug auszusetzen gäbe, wird hier als Außenfeind, als Fremdherrschaft aufgebaut, die immer noch mehr Flüchtlinge herankarrt. Es ist ein schäbiges, durchsichtiges, bislang aber leider sehr erfolgreiches Spiel. Kollateralschäden auf europäischer Ebene werden dabei bewusst in Kauf genommen. Sich mit sinistren Figuren wie den Herren Orban, Salvini und Zeman gemein zu machen auch.

Florian Wenniger (40) ist Hochschulassistent am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien.

Das Interview führte Volker Wagener.

Porträt eines Mannes mit Mittelscheitel und Bart
Volker Wagener Redakteur und Autor der DW Programs for Europe