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Politik

100 Tage im Amt: Bundesregierung im Stresstest

16. März 2022

Krieg. Corona. Klima. Noch nie musste eine Regierung mit so vielen Problemen gleichzeitig jonglieren und Entscheidungen treffen, die vieles auf den Kopf stellen. Hält die Ampel-Koalition dem Druck stand?

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Koalitionsgespräche zwischen SPD, Grünen und FDP in Berlin
Bild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance

Es ist Tag 96, seit die neue Bundesregierung im Amt ist, als die Eintracht der Koalitionäre einen Riss bekommt. Bundesfinanzminister Christian Lindner ist in den Medien mit der Idee vorgeprescht, Autofahrern wegen der explodierenden Preise für Benzin und Diesel einen Tankrabatt zu gewähren. Am Abend wird Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck in einer TV-Talkshow gefragt, was er von dem Vorschlag hält.

Dazu muss man wissen, dass Habeck Grüner ist, also einer Partei angehört, der FDP-Chef Lindner früher gerne vorwarf, sie führe einen Kulturkampf gegen das Auto. Linder hingegen liebt schnelle Autos. In der Gebärdensprache wird sein Name mit "Porsche" übersetzt.

Bei der SPD läuten die Alarmglocken

Erst will Habeck den Tankrabatt nicht kommentieren, dann sagt er, es seien "lauter Vorschläge auf dem Markt" und es sei klug, sich einmal zusammenzusetzen und dann die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dann platzt es doch aus Habeck raus: Man könne das doch "noch ein bisschen besser machen", urteilt er schmallippig über Lindners Idee.

Deutschland Wismar | Wirtschaftsminister Robert Habeck besucht MV Werft
Der grüne Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck ist mit dem Alleingang von FDP-Chef Lindner nicht einverstandenBild: Chris Emil Janßen/imago images

In der SPD schrillen in diesem Moment die Alarmglocken. Bislang wurden in der Ampel-Koalition, die wegen der Parteifarben von SPD, Grünen und FDP so genannt wird, strittige Themen nicht öffentlich diskutiert. Stillschweigen wahren zu können, nicht mit Zwischenschritten, sondern nur mit Lösungen nach außen zu gehen, das war bisher so etwas wie das "Erfolgsrezept" des Bündnisses. 

Der kleinste Koalitionspartner ist der Selbstbewussteste

Doch nach 100 Tagen im Amt scheint die Koalition auf dem Boden der parteipolitischen Realitäten angekommen, die selbstverständlich auch von Rivalität geprägt ist. Die FDP und die Grünen, das sind die beiden entgegengesetzten Pole in der Ampel-Regierung.

Bäume mit herbstlich leuchtenden Laub in Rot Grün und Gelb vor der Kuppel des Reichstags in Berlin
Rot, gelb und grün leuchteten die Blätter vor dem Bundestag, als die Ampel-Koalition zusammenfandBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Was sie unterscheidet: Die Grünen wollten von Anfang an mit der SPD koalieren, die FDP musste erst überzeugt werden. Das daraus resultierende Ungleichgewicht hat sich erhalten. Der vom Wahlergebnis her kleinste Koalitionspartner tritt mit dem Selbstbewusstsein eines Unverzichtbaren auf. Für SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz bedeutet das, er muss die FDP und Christian Lindner bei der Stange halten.

Scholz und Lindner verstehen sich gut

Der Kanzler und der Finanzminister sind von Anfang an gut miteinander ausgekommen. Scholz war vor Lindner Finanzminister, auch das verbindet. In den Augen der Grünen vielleicht zu sehr. "Sie dürfen davon ausgehen, dass Herr Scholz meine Überlegungen nie erst aus der Zeitung erfährt", hat Lindner in einem Interview der Rheinischen Post zum Thema Tankrabatt gesagt. Im ZDF antwortete er auf die Frage, wie hoch die Chancen dafür seien, dass sich die FDP dabei gegen die Grünen durchsetzen werde: "Hoch."

Kombobild Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner
Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner - drei Männer mit MachtanspruchBild: Frank Molter/Alexey Vitvitsky/Malte Krudewig/dpa/picture alliance

Lindner sagt aber auch: In der Koalition habe eben jeder seine Punkte, aber in den ersten 100 Tagen habe man die Regierung doch "so kennengelernt, dass wir immer gute Ergebnisse erzielen und das wird jetzt auch der Fall sein".

Wird es das auch aus der Sicht der anderen? In der Koalition rumort es nicht erst seit der Sache mit dem Tankrabatt. Als Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag eine Regierungserklärung abgab und verkündete, dass die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden soll, da war auch das zwar mit dem FDP-Bundesfinanzminister abgesprochen, aber bei der SPD und den Grünen gab es offensichtlich sehr viele, die nicht vorab eingeweiht waren.

Die FDP fordert schon lange den "Freedom-Day"

Ärger gibt es auch beim Thema Corona. Weil die Liberalen mehrheitlich gegen eine allgemeine Impfpflicht sind, konnte SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach keinen Regierungsentwurf für ein entsprechendes Gesetz vorlegen. Peinlich für SPD und Grüne.

Impfausweis und Kugelschreiber in den Parteifarben
Die Impfpflicht ist umstritten - auch in der RegierungskoalitionBild: Sascha Steinach/dpa/picture alliance

Auch beim Infektionsschutzgesetz diktiert die FDP, welche Corona-Maßnahmen über den 20. März hinaus gelten sollen. Der Sozialdemokrat Lauterbach verweist auf hohe Infektions- und Todeszahlen, sagt: "Die Lage ist objektiv viel schlechter als die Stimmung" und muss doch hilflos hinnehmen, dass das Infektionsschutzgesetz künftig nur noch rudimentäre Schutzmaßnahmen vorsieht und sogar die Maskenpflicht im Supermarkt wegfallen soll. Viele Bürger können das nicht verstehen. Andere jubeln.

Wo ist Scholz?

Wie schnell man beim Wähler in Ungnade fallen kann, hat der Bundeskanzler gleich zu Beginn seiner Amtszeit erleben dürfen. Scholz ist ein Politiker, der gerne hinter den Kulissen arbeitet, Zwischenschritte nicht öffentlich kommuniziert, sondern nur Ergebnisse. Am 15. Dezember hatte Scholz in einer Regierungserklärung "Aufbruch und Fortschritt" versprochen und angekündigt, zentrale Vorhaben im Bereich Klimaschutz, Digitalisierung und wirtschaftlicher Transformation zügig anpacken zu wollen.

Anschließend verschwand er praktisch aus der Öffentlichkeit. Wurde so unsichtbar, dass bei Twitter bald der Hashtag #WoIstScholz im Trend lag.

Es schien, als ducke sich Scholz weg, je mehr sich die Krise mit Russland verschärfte, je lauter die Ukraine nach Waffenlieferungen rief, je konkreter die Fragen nach möglichen Sanktionen wurden. Mit der Folge, dass es mit dem Kanzler und seiner SPD in der Beliebtheit im Januar deutlich bergab ging.

Erneuerbare "Freiheits-Energien" statt russischem Gas

Im Rückblick schienen diese Reaktionen den Kanzler zu überraschen. Plötzlich hatte er es sehr eilig, wieder sichtbar zu werden. Flog nach Washington, Kiew und Moskau und überraschte mit der Entscheidung, der Gaspipeline Nord Stream 2 erst einmal keine Betriebserlaubnis zu erteilen. Womit er gleichzeitig den Grünen politisch entgegenkam, denn die wollten Nord Stream schon immer stoppen.

Russland | Olaf Scholz trifft Wladimir Putin in Moskau
Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. Februar in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir PutinBild: Mikhail Klimentyev/Sputnik/dpa/picture alliance

Allerdings nicht nur aus geopolitischen Gründen, sondern in der Absicht, den Einsatz fossiler Brennstoffe zu reduzieren und den Ausbau der erneuerbaren Energien zu forcieren. Durch die steigenden Energiepreise und die Gefahr, dass Russland den Gashahn zudreht, haben die Grünen nun Rückenwind. Selbst die FDP dreht bei, Christian Lindner nennt Wind- und Solarkraft inzwischen "Freiheits-Energien". Allerdings drängt die FDP auch darauf, die Atomkraftwerke länger laufen zu lassen.

Leere Kassen sorgen für Ärger

Der Krieg und die Energiekrise, der Klimawandel, die Pandemie - jede dieser Krisen hat das Potenzial, eine Regierung in Atem zu halten. Die Ampel muss mit allem zugleich fertig werden. Das wird umso schwieriger, je weniger Geld sie zur Verfügung hat. Auch in diesem Punkt kommt der FDP eine Schlüsselrolle zu. Der Finanzminister wird in diesem Jahr noch einmal Kredite in dreistelliger Milliardenhöhe aufnehmen müssen. 2023 will Lindner allerdings zurück zur Schuldenbremse.

Symbolfoto | Ampelkoalition
Der Bundestag hat die Schuldenbremse wegen der Corona-Notlage ausgesetztBild: Dwi Anoraganingrum/Geisler-Fotopress/picture alliance

Laut der vorläufigen Finanzplanung ab 2023 soll kräftig gespart werden. Das aber würde bedeuten, dass viele der im Koalitionsvertrag vereinbarten Projekte nicht mehr finanzierbar wären. Nur noch das Notwendigste wäre machbar. Werden die SPD und die Grünen das mit sich machen lassen?

Alte Gewissheiten aufgeben

In der SPD rumort es bereits. Der linke Flügel fordert eine Aussetzung der Schuldenbremse auch 2023 und höhere Steuern für Vermögende. Die Grünen-Chefin Ricarda Lang spricht von einer "Zeitenwende", in der "alle alten Gewissheiten" überdacht werden müssten. "Ich glaube, gerade ist nicht die Zeit, wo man einfach sagen kann: 'Das haben wir schon immer gesagt' oder 'Das steht auf Seite 304, Zeile 47 unseres Wahlprogramms'."

Muss die FDP ihre Forderung nach sparsamer Haushaltsführung am Ende aufgeben? So einträchtig, wie die Koalition in den ersten 100 Tagen regiert hat, wird es ganz sicher nicht weitergehen.