1968: Interview mit Willi Holdorf | Sportgeschichten | DW | 07.12.2015
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Sportgeschichten

1968: Interview mit Willi Holdorf

Willi Holdorf – ein Mann, der 1964 keine Wellen schlägt, sondern den russischen Weltklasseläufer Aun. Auf die Frage, was ihm von seinem Ruhm geblieben ist, sagte er grinsend: „Eigentlich nichts."

Willi Holdorf beim Weitsprung bei den Olympischen Spielen von Tokio 1964

Willi Holdorf beim Weitsprung bei den Olympischen Spielen von Tokio 1964

In ihrer Reihe „Gold, Geld und Nackenschläge“ beginnt "Die Welt" am 14. Juli 1976 ihren Artikel – einer Retrospektive der Olympischen Spiele von 1964 – wie folgt: "Oktober 1964. Die Zeitungen in der Bundesrepublik drucken Sondernummern. Die japanische Zeitung 'Asahi Shimbun' überschreibt ihren Bericht vom Zehnkampf mit den größten Buchstaben aus dem Setzkasten: 'Willi Holdorf gewinnt die Olympischen Spiele'."

Liebe auf den zweiten Blick

Willi Holdorf nach dem Stabhochsprung bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio

Willi Holdorf nach dem Stabhochsprung bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio

Damit spiegelt sich deutlich wider was die Menschen rund um Tokio jener Tage empfunden haben müssen. Dieser Mann und der Kampf, den er gewonnen hat, sind nicht mehr zu übertreffen. Dabei hätte auch alles ganz anders laufen können. Willi Holdorf kommt am 17. Februar 1940 als Sohn eines Kleinbauern in Blomesche Wildnis bei Glückstadt zur Welt. Sein Talent für den Sport wurde erst spät entdeckt. Seine Lehrerin Gertrud Loose, die ihn 1946 unter ihren ABC-Schützen hatte, wird später sagen: "Ehrlich, von Sportbegabung war nichts zu merken. Kein Wunder, wir haben hier in der Schule keine Turnmöglichkeiten." Erst mit 18 Jahren kommt er vollends zur Leichtathletik. Zuvor sollte der ETSV Fortuna Glückstadt viele Jahre sein Zuhause sein, nebenher spielte er bei MTV Hetzhorn Handball. In beiden Disziplinen fiel er durch sein Laufvermögen und seine Schnelligkeit auf. 1957 lässt er sich von Freunden überreden an der Jugendbezirksmeisterschaft der Leichtathletik teilzunehmen. Hier gewinnt er auf Anhieb den 100-Meter-Sprint. Willi Holdorf war in der Leichtathletik angekommen, und es sollten erste regionale Erfolge im Sprint erzielt werden. Der vielseitig interessierte junge Mann merkte bald, dass seine Sprintleistung stagnierte, und so wandte er sich dem Zehnkampf zu, wo er sich schon seit jeher besser aufgehoben sah. Damit hatte er seine Berufung gefunden.

Die Gold-Medaille am Hals - Willi Holdorf in Tokio 1964

Die Gold-Medaille am Hals - Willi Holdorf (Mitte) in Tokio 1964

Meister aller Klassen

1959, nach nur eineinhalb Jahren Training, kehrte er als Juniorenmeister im Zehnkampf aus Neumünster nach Hause zurück. Im selben Jahr übertraf er erstmals die 6.000-Punkte-Grenze bei seinem Länderkampfdebüt gegen die Schweiz. 1960 kam er beim SV Bayer 04 Leverkusen unter die Obhut von Trainer Bert Sumser und dem verantwortlichen Zehnkampftrainer Friedrich Schirmer. Diese beiden sollten ihn über das damalige Niveau hinaus bestens betreuen und fördern. Bei den Olympischen Spielen 1952 hatte Schirmer Platz acht im Zehnkampf belegt. Er war Fahnenträger der bundesdeutschen Mannschaft, darüber hinaus galt er als "Vater der deutschen Zehnkämpfer". Mit Hilfe beider Trainer machte Holdorfs Leistungsentwicklung rasante Fortschritte. Im Juni 1961 übertraf er in Kassel die 7.000-er Grenze. Im selben Jahr, mittlerweile im Männerbereich startend, gewinnt er aus dem Stegreif seinen ersten deutschen Zehnkampftitel. Bei den VII. Europameisterschaften in Belgrad belegte er im Zehnkampf Rang fünf. Für den Athleten sind es die ersten internationalen Meisterschaften. In Hannover wurde er zum zweiten Mal deutscher Meister im Zehnkampf, übertraf erstmalig die 8.000-er Grenze. Das war ein deutscher Rekord. Im entscheidenden Olympiajahr, 1964, gab es zwar weitere Leistungsverbesserungen, aber auf Grund des gestiegenen Niveaus nicht mehr die großen Leistungssprünge. Bis zum olympischen Wettstreit absolvierte Willi Holdorf in diesem Jahr zwei Zehnkämpfe. Den dritten Platz belegte er Mitte Juli bei den deutschen Meisterschaften in Karlsruhe. Ende August trat er bei den Ausscheidungskämpfen für die gesamtdeutsche Olympiamannschaft in Jena an. Den Sieg errang er mit einer persönlichen Bestleistung von 8.156 Punkten (alte Wertung) bzw. 7.869 Punkten (neue Wertung), diese kam relativ kurzfristig in Tokio zum Einsatz. Willi Holdorf, sein damaliger Trainingspartner Hans-Joachim Walde und Horst Beyer flogen nach Japan. Tokio, das war das Ziel, hier würde Holdorf Geschichte schreiben.

„Big in Japan"

Willi Holdorf (Mitte) brach nach dem 1500m Lauf am 20. Oktober 1964, während der XVIII. Olympischen Spiele in Tokio, erschöpft zusammen. Mit diesem Lauf sicherte er sich die Goldmedaille

Willi Holdorf (Mitte) bricht nach dem 1500-m Lauf am 20. Oktober 1964 während der XVIII. Olympischen Spiele in Tokio erschöpft zusammen. Mit diesem Lauf sicherte er sich die Goldmedaille

"Ein junger Mann, 24 Jahre alt, athletischer als er aussieht, mit dünnem Haar über der Stirn, was ihn älter erscheinen lässt, als er wirklich ist", so beschreibt ihn "Die Welt" im Juli 1976, tritt also zum olympischen Zehnkampfwettberb an. Immer behält er die Nerven, sucht Vorteile und meistert kritische Situationen. Nach dem ersten Tag und der ersten Hälfte der Übungen führt er mit 23 Punkten vor seinem schärfsten Konkurrenten, dem Russen Aun. Die letzte Disziplin, der 1500-Meter-Lauf, sollte alles entscheiden, denn Aun ist im Gegensatz zu Holdorf ein begnadeter Läufer. Der Russe durfte nicht mehr als 18,5 Sekunden vor dem Deutschen die Ziellinie überqueren, sonst hätte dieser verloren. "Schirmer sagt seinem Mann nicht die Wahrheit. Nur 14 Sekunden seien es, sagt Schirmer und bereitet damit eines der mitreißendsten Sportschauspiele vor, die der Sport je geboten hat." schreibt "Die Welt" weiter. Aun läuft mühelos davon, hinter ihm kämpft Willi Holdorf um jeden Meter, tiefe Falten im Gesicht, der regungslose Blick der in der Ferne wandert und die verkrampften Hände zeugen vom Kampf Geist gegen Körper. "Was dieser Mann tut, grenzt an Selbstvernichtung." heißt es. Hundert Meter vor dem Ziel beginnt er zu wanken, läuft aber weiter, vor Erschöpfung ohnmächtig geworden fällt er, 12,7 Sekunden nach Aun, seitlich ins Ziel und wird so zum "König der Leichtathleten" von 1964.

Im November 1968 unterhielt sich für die DW Werner Labriga mit Willi Holdorf über dessen sportliche Laufbahn.

Autor: Tobias Feigl

Redaktion: Diana Redlich

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