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DDR-Flüchtlinge in Ungarns Nothilfelagern

Melina Grundmann
11. September 2019

In der Nacht auf den 11. September 1989 öffnet Ungarn seine Grenze zu Österreich. Tausende DDR-Bürger fliehen innerhalb weniger Stunden. Vorher haben sie teils wochenlang in Lagern der Malteser in Budapest ausgeharrt.

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Historischer Einsatz in Budapest
Malteser-Flüchtlingslager in BudapestBild: Malteser

Es ist nicht irgendein Stück Stacheldraht, das in der Wohnung von Heide und Uwe Schiller hängt. Es ist ein Stück Stacheldraht aus dem ungarischen Grenzzaun zu Österreich, den die Welt als den Eisernen Vorhang kennt. Die Grenze also, die die Sowjetunion im Kalten Krieg vom Westen trennte. Die Schillers stammen aus der DDR. Das Stück Stacheldraht soll sie für immer an ihre Flucht über Ungarn in die Bundesrepublik erinnern, als die Grenze in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 endgültig geöffnet wurde.

Gedenkveranstaltung 30-Jahre Grenzöffnung Ungarn und Malteser Nothilfelager
Heide und Uwe Schiller bei der Gedenkveranstaltung zum 30. Jahrestag der Malteser-Nothilfelager in Budapest Bild: DW/M. Grundmann

"Der Stacheldraht ist das Ende unserer gesamten Fluchtgeschichte", erzählt Heide Schiller heute. Ein ungarischer Grenzbeamter schenkte ihnen das Stück, kurz nachdem sie die Grenze übertreten hatten. Heide Schiller und ihr Mann hatten Mitte August 1989 ihre Heimatstadt Gera in der DDR mit einem Visum nach Ungarn verlassen. Der offizielle Grund: eine Einladung zu einer Hochzeit. Der inoffizielle: Beide wollten versuchen, über Ungarn in die BRD zu gelangen. "Wir waren in unglaublicher Anspannung. Es war eine Mischung aus Euphorie und panischer Angst", sagen beide. Die Schillers schlossen ihre Wohnungstür ab und kehrten nie mehr zurück.

Ungarn baut Grenzanlagen ab

Ungarn hatte bereits Anfang Mai 1989 damit begonnen, die ersten Stellen im Eisernen Vorhang einzureißen - das Land hatte beschlossen, dieGrenzanlagen abzubauen. Die Entscheidung löste eine regelrechte Massenflucht von Ost nach West aus. Es war der erste Schritt in einem Prozess, der am Ende die Berliner Mauer und den gesamten Eisernen Vorhang zu Fall brachte.So versuchten im Verlauf des Sommers '89 immer mehr DDR-Flüchtlinge, über Ungarn in den Westen zu gelangen. Auf Ihrem Weg erhielten sie Zuflucht in den Nothilfelagern der Malteser. Viele Menschen waren verängstigt und erschöpft. Sie hatten alles hinter sich gelassen, und doch konnte ihnen keiner garantieren, dass ihr Plan aufgehen würde.

Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich 1989
Die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock (l) und Gyula Horn (r), durchtrennen am 27.06.1989 den GrenzzaunBild: DPA
Auf dem Gelände der Zugliget Kirche - Historischer Malteser Einsatz für die DDR-Flüchtlinge in Budapest 1989
10 000 DDR-Flüchtlinge wurden in drei Lagern in Budapest betreut, ehe sie ausreisen durftenBild: Wolfgang Wagner

So ging es auch dem Ehepaar Schiller. Vier Wochen verbrachten sie in einem der insgesamt drei Malteser-Lager in Budapest. Gemeinsam mit ehemaligen Helfern sowie anderen Flüchtlingen, die auch in den Lagern saßen, feiern sie an diesem Mittwoch das 30-jährige Jubiläum der ungarischen Grenzöffnung mit einer kleinen Ausstellung in Berlin. "Trotz der 30 Jahre, die vergangen sind - die Erinnerungen sind noch da, und die sollen auch dableiben", sagt Uwe Schiller. Er freut sich, dass auch Schulklassen zur Ausstellung gekommen sind und sich für die Geschichte interessieren. So wie der 14-jährige Schüler Matteo di Antonio aus Berlin. Matteos Vater lebte selbst in der DDR und hatte mehrmals versucht, die Mauer zu überwinden - vergeblich. "Wir sollten wertschätzen, wie gut es uns geht", sagen Matteo und sein Mitschüler Calvin.

Gedenkveranstaltung 30-Jahre Grenzöffnung Ungarn und Malteser Nothilfelager
Die Berliner Schüler Matteo (l) und Calvin (r) schauen sich die Ausstellung zur Grenzöffnung anBild: DW/M. Grundmann

Der damalige Einsatzleiter der Malteser, Wolfgang Wagner, betreute die Flüchtlinge im Lager. "Viele Menschen haben auf ihrer Flucht einen Angehörigen oder Freund verloren und ihr ganzes Hab und Gut zurückgelassen", erzählt Wagner, "Wir haben immer gehofft, dass es klappt, und schließlich wurden die Grenzen ja auch geöffnet." 

Gedenkveranstaltung 30-Jahre Grenzöffnung Ungarn und Malteser Nothilfelager
Wolfgang Wagner war damals Einsatzleiter der Malteser-Flüchlingslager in BudapestBild: DW/M. Grundmann

An den Moment erinnern sich alle noch ganz genau: Als der ungarische Außenminister Gyula Horn am 10. September gegen 19.15 Uhr die Grenzöffnung in einer Fernsehansprache bekanntgibt, gehen seine Worte im Freudenschrei der Lagerinsassen unter. Schnell macht sich Aufbruchstimmung breit, in den nächsten 24 Stunden passieren tausende Menschen die Grenze. Insgesamt fliehen rund 55.000 DDR-Bürger auf diesem Weg in den Westen. 

Gelebte Solidarität

Heide und Uwe Schiller wollen etwas von der Solidarität zurückgeben, die sie damals von den Maltesern, aber auch von der ungarischen Bevölkerung erhalten haben. "Wir können uns in die Flüchtlinge von heute ein Stück weit hineinversetzen. Wir haben unsere eingerichtete Wohnung in der DDR abgeschlossen und alles zurückgelassen. Und wir sind nur von Deutschland nach Deutschland gegangen, wir können uns kaum vorstellen, wie schwer das für die Geflüchteten aus anderen Ländern sein muss", sagt Uwe Schiller, "Wir sollten dankbar sein, in was für einem Luxus wir heute hier in Deutschland leben." Das Ehepaar betreut heute eine eritreische Familie. Sie beide hätten gedacht, dass es 30 Jahre nach dem Mauerfall friedlicher zugehen würde in der Welt.