1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Regisseur Veiel über den Deutschen Herbst

Silke Bartlick
5. September 2017

Am 5. September 1977 entführte die Rote Armee Fraktion Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer: der Beginn des Deutschen Herbstes. Regisseur Andres Veiel spricht mit der DW über die RAF - und ein Erlebnis als Kind.

https://p.dw.com/p/2jKxN
Regisseur Andres Veiel
Bild: picture-alliance/B. Kammerer

Der sogenannte Deutsche Herbst begann mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten und ehemaligen SS-Mannes Hanns Martin Schleyer durch die linksextremistische Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) und endete mit seiner Ermordung am 18. Oktober 1977. Am 13. Oktober versuchten palästinensische Terroristen mit der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut", RAF-Terroristen aus der Haft freizupressen, was nicht gelang. Als Reaktion darauf begingen die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord. Daraufhin ermordeten die Entführer Schleyer . Regisseur Andres Veiel hat sich in seinen preisgekrönten Filmen "Black Box BRD" (2001) und "Wer wenn nicht wir" (2010) mit der Geschichte der RAF auseinandergesetzt.

Deutsche Welle: Die jungen Menschen heute wachsen mit dem Terror des IS auf. Sie sind mit der RAF groß geworden. Wie haben Sie sie erlebt?

Andres Veiel: Also, ich habe das schon als Zwölfjähriger persönlich erlebt, weil es eine Bombenbedrohung gab in Stuttgart, und ich einfach neugierig war und in eine leere Stadt gekommen bin, wo niemand war und die Läden zum Teil geschlossen. Es ist bis heute unklar, ob das wirklich von der RAF gekommen ist oder von einem Trittbrettfahrer, der mit dieser Bedrohungslage auch eine Stimmung anheizen wollte. Dass ein Aufruf von ganz wenigen Menschen, möglicherweise eine Bombe zu zünden, so eine Angstsituation schafft, das war so eine der ersten  Erfahrungen als Zwölfjähriger. Und in den Jahren 75, 76, wo die Prozesse anfingen gegen (die RAF-Mitglieder, Anm. d. Red.) Andreas Baader, Gudrun Ensslin und damals auch noch Ulrike Meinhof, habe ich sehr schnell gemerkt, ich muss mich entscheiden, auf welcher Seite stehe ich. Das heißt, ich merkte mehr und mehr, dass da ein Faszinosum entstand, dass Menschen, die bereit waren, für eine bessere Welt zu kämpfen, mich erreicht haben, trotz der Gewalt, das muss ich ganz klar sagen. Und dieses Faszinosum hat mich zerrissen. 

"Die Ziellinie war zerstören, provozieren"

Sie haben sich dann als Filmemacher künstlerisch immer wieder mit den 70er Jahren und der RAF beschäftigt. Warum?

Ein Stück weit ist dieser Baader-Meinhof-Komplex in seiner Wirkungsgeschichte verdrängt worden. Und ich hab gemerkt, gerade nach der Wende, dass es Zeit wird, sich wieder damit zu beschäftigen. Dass auch nach der Auflösung der RAF immer noch die eigentlichen Fragen nicht beantwortet wurden: Was hat diese Menschen dazu getrieben, diese Art von massiver Gewalt auszuüben? Warum hat der Staat so heftig, so polarisiert reagiert? Das waren Fragen, die mich weiter beschäftigt haben, und dadurch ist dann "Black Box BRD" entstanden.

Bahnhof von Bad Kleinen, Filmstill Black Box BRD 2001
Filmszene aus "Black Box BRD" (2001): Bahnhof von Bad Kleinen, wo RAF-Terroristin Birgit Hogefeld festgenommen wurdeBild: X Verleih

Ihnen ist es ja nie nur um die Oberfläche, um Opfer und Täter, um Schuld oder Unschuld gegangen, sondern Sie wollten wissen, was dahinter steckt. Was haben Sie denn da gefunden?

Je intensiver ich mich damit beschäftigt hatte, desto mehr merkte ich, dass dieses Gefäß doch sehr, sehr leer ist, dass sehr stark aus der Negation, aus der Verweigerung argumentiert wird. Die Ziellinie war zerstören, provozieren: Wir wollen, dass dieser Staat seine faschistische Fratze zeigt, um uns selbst auch zu legitimieren. Es war aber gar keine Vorstellung da, wie dieses Land, wie diese Welt wirklich anders oder besser aufgebaut, entwickelt werden kann. Es gibt einen Schlüsselsatz von Gudrun Ensslin, die mal sagte, wir wollen uns nicht den Vorwurf machen lassen, etwas erkannt und nichts getan zu haben. Und ihr Vater soll dann gesagt haben: 'Ja, was heißt das? Ihr sehnt den Faschismus ja richtig herbei! Was ist, wenn er gar nicht kommt?' Ich glaube, dass in diesem Dialog die Kernproblematik der RAF enthalten ist.

"Geschichte hat sich als Farce wiederholt"

Heißt das dann, dass Jan Philipp Reemtsma doch recht gehabt hat, der behauptet hat, dass der RAF-Terrorismus nur Größenwahn gewesen ist und dass es um die Lust an der Gewalt ging?

Man kann es nicht auf Größenwahn reduzieren, sondern in gewisser Hinsicht musste etwas zu Ende geführt werden, was die Generation vorher versäumt hat. Und das hat was sehr Tragisches, weil es zu Ende geführt werden musste, ohne dass geguckt wurde, in welchem Land leben wir eigentlich? Brauchen wir das jetzt? Man muss dazu sagen, dass dieses Gewaltphänomen ja auch in den Strukturen eine Wiederholung von faschistoiden Strukturen war – der Korpsgeist, eine ganz klare paramilitärische Struktur, also Rote Armee Fraktion. Und ohne es wahrscheinlich zu wollen, hat sich da Geschichte als Farce wiederholt. Ich fand das  erschreckend, dass die Binnenstruktur nicht den Geist atmet von einer Utopie, von einer Befreiung, sondern dass da ganz stark Befehl, Gehorsam, Einschüchterung, Angst, also, dass im Grunde die gleichen Strukturen umgesetzt wurden, die in jeder paramilitärischen Kampforganisation bzw. auch Militärstruktur herrschen.

Nun hat ja die Bundesrepublik in jenen Jahren und insbesondere im Umfeld des deutschen Herbstes unglaublich aufgerüstet. Kann man denn sagen, dass da in gewisser Weise ein ähnlicher Geist geherrscht hat? Insbesondere der Krisenstab damals ist ja durchaus bereit gewesen, Schleyer und die Insassen der Landshut potenziell zu opfern...

In gewisser Hinsicht war es so, dass der Kriegsgeist auf zwei Seiten vorhanden war. Das waren ja überwiegend Wehrmachtsoffiziere, erfolgreiche Wehrmachtsoffiziere, wenn man an Bundeskanzler Helmut Schmidt denkt. Und dieser Geist von Befehl, Durchgreifen, Standhaftigkeit, der war da ja genauso vorhanden. Wenn man so will, war es ein Krieg von ganz wenigen gegen die Nachhut von Wehrmachtsoffizieren des Dritten Reiches, die mit einer ähnlichen Ideologie aufeinander gekracht sind, mit einer ähnlichen Unversöhnlichkeit. Und da gab es kein Nachgeben. Auf beiden Seiten nicht.

"Erfahrung des absoluten Versagens der Elterngeneration"

Warum haben so viele Frauen an diesem Kampf teilgenommen?

Ich glaube, dass das auch eine Geschichte von Empathie hat. Das sieht man bei Ulrike Meinhof auf eine sehr spannende Weise. Die hat 1957 ein Interview geführt mit Reich-Ranicki, der ihr als der ersten Journalistin überhaupt Fragen beantwortet hat zu seiner Zeit im Ghetto in Lodz. Das war für Ulrike Meinhof absolut einschneidend: Sie hat geweint, sie hat, glaube ich, dieses Interview auch an einem bestimmten Punkt nicht fortsetzen können. Das heißt, die Erfahrung der Schuld, die Erfahrung des absoluten Versagens der Elterngeneration, haben gerade Frauen, also Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, mit Wucht eingesaugt. Und von daher war dieser moralische Imperativ "Wir müssen etwas tun, wir dürfen uns nicht den Vorwurf machen lassen, etwas erkannt zu haben und nichts getan zu haben", bei Frauen nochmal viel tiefer verankert.
Das Ende des sogenannten Deutschen Herbstes, der Tod von Hanns Martin Schleyer, die Befreiung in Mogadischu, die Tode in Stammheim, war eine Zäsur. Es war bekanntlich nicht das Ende der RAF, aber innerhalb der Gesellschaft hat sich ganz viel geändert. Wo ist dieser revolutionäre Geist auf der Straße geblieben?

Filmstill Wer wenn nicht wir von Andres Veiel
August Diehl als Bernward Vesper und Lena Lauzemis als Gudrun Ensslin in "Wer wenn nicht wir" (2011)Bild: Markus Jans/zero one film

Ich glaube, diesen unmittelbaren kämpferischen Impuls in den Zeiten der RAF, den gibt es so nicht mehr. Inzwischen mussten wir erkennen, dass die Welt unendlich kompliziert ist, dass wir eben nicht einteilen können, hier sind die Revolutionäre und da sind die Unterdrücker. Der Machtbegriff ist viel feiner geworden, fast flüssig, gasförmig, dringt er in alle Nischen, in alle Ritzen ein. Die Durchökonomisierung unseres Lebens lässt sich nicht mehr personifizieren. Dass da ein Herr Schleyer oder ein anderer  Funktionsträger jetzt verantwortlich ist und dass die Welt in irgendeiner Form besser wird, indem wir uns seiner bemächtigen, ihn bedrohen oder sogar umbringen: Das hat sich längst als Irrtum herausgestellt. Also gibt es keine Kampfrichtung mehr, die ein eindeutiges Ziel hat. 

Haben Sie den Eindruck, dass die Geschichte der RAF mittlerweile zufriedenstellend aufgearbeitet wurde?        

Die Geschichte der RAF ist überhaupt nicht aufgearbeitet. Es gibt keinen Täter, der sich unmittelbar bekennt, der einem Opfer gegenüber sitzt und sagt, ich habe es getan. Oder wir haben es getan aus diesen oder jenen Gründen. Das heißt, es ist für die Opfer eine schwer erträgliche Situation, die mit den Jahren nicht besser wird. Weil sie nicht wissen, aus welchen Motiven hat jemand meinen Mann, meinen Freund, meinen Geliebten umgebracht. Warum kam der auf die Todesliste? All die Fragen stecken, wenn man so will, bis heute  in den Köpfen der Opfer drin, in den Seelen der Opfer, die immer noch verletzt sind und verletzt bleiben, wahrscheinlich lebenslänglich davon gezeichnet sind. Weil sie niemanden haben, dem sie diese Fragen stellen können. 

"Bundesrepublik musste durch diesen Herbst gehen, um zu sich selbst zu kommen"

Was haben Sie persönlich denn aus dieser langen und sehr intensiven Beschäftigung mit diesem Teil der deutschen Geschichte  gelernt?

Für mich zeigt sich, dass Geschichte durch äußere Ereignisse nicht abgeschlossen ist, nicht abgeschlossen werden kann, indem jetzt die RAF sich auflöst oder indem 1945, wenn man in der Geschichte zurückgeht, kapituliert wird. Und damit ein vermeintlicher Schlussstrich unter die Geschichte des Faschismus gesetzt wird. Geschichte setzt sich sozusagen körperlich in der nächsten, übernächsten und wahrscheinlich noch in der dritten oder vierten Generation fort. Gewalt verpuppt sich, sie taucht erstmal nicht auf, man denkt, das ist abgeschlossen, man kann zur Tagesordnung übergehen. Und dann zeigt sie sich in einer Fratze wieder. Diese Gewaltblase platzt auf an Punkten, wo man es überhaupt nicht erwartet.

Was bedeutet dieser Deutsche Herbst, der sich ja bald zum 40. Mal jährt, für die Entwicklung der Bundesrepublik?

Ich glaube, dass diese Bundesrepublik durch diesen Herbst gehen musste, um zu sich selbst zu kommen. Sie ist demokratischer geworden, es gab Platz für eine neue Partei, die Grünen, es gab Platz für eine neue Zeitung, nämlich die taz. Das heißt, in diesem linken Spektrum ist plötzlich eine Demokratisierungsbewegung angekommen, die der Republik insgesamt gut getan hat. Die Parteienlandschaften wurden umgekrempelt, die Möglichkeit, doch ins System hineinzuwirken, auch aus linker Perspektive, das gab es vorher nicht. Plötzlich war der Gedanke da: Wir können in dieser Republik mit ihren demokratischen Strukturen etwas erreichen.

Erklärt das, warum große Teile der Bevölkerung neuen Formen linker Gewalt hilflos und abwehrend gegenüberstehen - wie zuletzt beim G20 Gipfel in Hamburg?

Es ist, glaube ich, schwer zusammenzubringen, weil die Legitimation der RAF eine ganz andere war. Sie hat sich in einem Kontext eben der weltweiten Befreiungsbewegungen verortet. Und jetzt ist es eine kleine Gruppe von Menschen, die aus ganz Europa zusammenkommen, ihren Frust dann auf diese Weise loswerden wollen. Und damit gehen eigentlich die guten Argumente, mit der ja viele Globalisierungsgegner nach Hamburg gefahren sind, natürlich unter. Das ist sehr schade, weil tatsächlich in dieser Welt grundlegend Fragen gestellt werden müssen.

Das Interview führte Silke Bartlick.