1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Das Anwerbeabkommen und die Kunstszene

Ceyda Nurtsch
30. Oktober 2021

Seit dem Anwerbeabkommen 1961 ist Deutschland zur zweiten Heimat vieler Türkeistämmiger geworden. Ihre Erfahrungen haben einige künstlerisch verarbeitet.

https://p.dw.com/p/42DJf
Türkische Gastarbeiter 1966 schauen aus einem Zugfenster
Abfahrt nach Deutschland 1966: Was wird die Zukunft bringen?Bild: picture-alliance/Beynelmilel

Als am 30. Oktober 1961 die Bundesrepublik mit der Türkei, nach Italien, Spanien und Griechenland, das sogenannte Anwerbeabkommen unterzeichnet, befindet sich Deutschland mitten im Wirtschaftswunder. Die ausländischen Arbeitskräfte werden dringend gebraucht. Bis zum Anwerbestopp 1973 kommen über 800.000 sogenannte Gastarbeiter. Sie werden angelernt, arbeiten im Bergwerk und in Fabriken. Für viele wird Deutschland zur zweiten Heimat. Sie bleiben, bauen sich Existenzen auf, holen ihre Familien nach.

Eine türkische Familie, Eltern und sechs Kinder, steht vor Mietshäusern auf der Straße
Eine türkische Familie im Arbeiterviertel der Ruhrgebietsstadt Duisburg Bild: picture-alliance/dpa/K. Rose

Gleichzeitig verarbeiten viele ihre Eindrücke und Erlebnisse in der Fremde künstlerisch. Es entstehen Lieder, Bilder, Bücher und Filme. Mal sind sie Bindeglied zur alten Heimat, mal Rebellion, mal halten sie der Gesellschaft, in der sie entstehen, einen Spiegel vor. So wird die Sängerin Yüksel Özkasap in den 1970er-Jahren zum großen Star unter den Türkeistämmigen. Weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit singt die "Nachtigall von Köln" über die verlorene Heimat, bricht mit ihrem Plattenverkauf Rekorde und wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

"Trinke Bier, dann bist du auch willkommen hier"

Mit den Jahren erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Leben in der fremden Heimat auch auf Deutsch. Etwa beim Auftritt des Sängers Cem Karaca in der TV-Talkshow "Bios Bahnhof" im Oktober 1985. Karaca kommt nicht als Arbeitsmigrant nach Deutschland, sondern mit einer Auswanderungswelle von politischen Flüchtlingen um die Zeit des Militärputsches 1980 in der Türkei. "Türkisch Mann noch weißt du nicht/ Dass du eintauschst Menschlichkeit/ Gegen eine Fließbandschicht" singt er in seinem Lied "Deutscher Freund". Und kommentiert in seiner sarkastischen Ballade "Willkommen" mit seiner rauchigen Stimme die Integrations-Debatte: "Komm Türke - trink deutsches Bier/ dann bist du auch willkommen hier/ mit Prost wird Allah abserviert /Und du ein Stückchen integriert."

Fremdheit, Identität, Sprachlosigkeit

Zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Emine Sevgi Özdamar, Aras Ören oder Renan Demirkan und Filme wie "40 qm Deutschland" von Tevfik Başer setzen sich mit den Themen Fremdheit, Identität und Sprachlosigkeit auseinander. Auch die Arbeitsmigrantin und Dichterin Semra Ertan: Ihr Leben nimmt ein tragisches Ende, als sich die Verfasserin der Zeilen "Mein Land hat uns nach Deutschland verkauft, wie Stiefkinder, wie unbrauchbare Menschen" im Mai 1982 aus Protest gegen Rassismus in Deutschland auf offener Straße in Hamburg selbst verbrennt.

"Wir waren so etwas wie eine stille Masse, die bald wieder geht"

Nach den rassistischen Anschlägen von Mölln und Solingen in den 1990er-Jahren melden sich die Söhne der sogenannten Gastarbeiter zu Wort. Die Berliner Hip-Hop-Gruppe Cartel wird als erste mit türkischsprachigem Rap berühmt, der dann auch in der Türkei populär wird. Besonders mit ihrem Hit "Cartel", der die Anschläge thematisiert, trifft die Gruppe einen Nerv bei Jugendlichen in Deutschland und der Türkei. Der Musiker Erci E. war damals mit dabei und erinnert sich an die Zeit: "Das war ein anderes Deutschland als heute. Wir hatten keine Politiker mit Migrationshintergrund, keine Moderatoren in den Tagesthemen (Anmerk. d. Red: Nachrichtensendung im TV) oder irgendwelche Sportler, die für Deutschland ganz selbstverständlich irgendetwas hinkriegen, aber ursprünglich gar nicht aus Deutschland kommen", erzählt er. "Wir waren so etwas wie eine stille Masse, die nur zu Gast war und bald wieder gehen sollte."

Nicht repräsentiert zu sein und die Sorge: "Folgt da jetzt noch mehr? Sind wir jetzt vielleicht alle morgen die Zielscheibe?" habe die Psyche ganz schön mitgenommen, so Erci E. "Im Rückblick versteht man, warum unsere Musik den Menschen gut getan hat. Weil wir repräsentativ für sie rumgeschrien haben, gesagt haben, so geht das nicht, wir sind hier, wir lassen das nicht mit uns machen. Das war Erleichterung, Befreiung und Selbstbewusstsein."

Jilet Ayşe: Eine Kunstfigur wehrt sich

Auch drei Jahrzehnte nach den Brandanschlägen sind Rassismus und Fremdenfeindlichkeit immer noch ein Thema für türkischstämmige Künstlerinnen und Künstler. Für ihre Kunstfigur der Migrantengöre Jilet Ayşe, die kein Blatt vor den Mund nimmt, erhielt die Comedian İdil Baydar zahlreiche Preise, aber auch Morddrohungen von Rechtsextremen.

 Idil Baydar
Kabarettistin Idil Baydar nimmt kein Blatt vor den Mund Bild: picture-alliance/dpa/H. Galuschka

"Jilet Ayşe ist eigentlich die erste und einzige Figur, die den Deutschen ins Visier genommen und gegen all die Demütigungen, die sie in ihrer migrantischen Identität ertragen musste, zurückgeschossen hat", erklärt Baydar. "Sie hat gesagt, ne, ich erkläre dir jetzt nicht, warum wir kein Schweinefleisch essen. Du erklärst mir, warum du nichts Besseres zu tun hast, als aus Migranten Kriminelle, Gewalttäter, Frauenfeinde, Umweltverschmutzer zu machen und vor allem Bildungsferne." Die Figur, sagt die Künstlerin, mache vor allem klar, wie es sich anfühlt, gedemütigt zu werden. "Genau deswegen ist Kunstfreiheit so wichtig, damit wir diesen Raum haben, um gewisse Dinge zu verhandeln", so Baydar.

Theaterlandschaft ändert sich

Männer und Frauen stehen im Stück "Schnee" frei nach Motiven des gleichnamigen Romans von Orhan Pamuk im Maxim Gorki Theater auf der bühne
Aufführung im Maxim Gorki-Theater: "Schnee" - frei nach Orhan Pamuk Bild: Ute Langkafel/Maxim Gorki Theater

Auch eine neue Generation von Theatermachern um das Theater "Ballhaus Naunynstraße" und das Gorki Theater in Berlin verhandeln die Migrationsgeschichten ihrer Familien und suchen dabei nach neuen Perspektiven. So auch Hakan Savaş Mican. "Was mich besonders interessiert, ist, bestimmte Themen nicht aus einer migrantischen oder ethnischen Sicht zu betrachten, sondern vielmehr über die ökonomischen Verhältnisse, die Klassenverhältnisse, nachzudenken”, sagt der Theatermacher.

Mittlerweile kämen immer mehr Menschen und deren Geschichten auf die Bühne, die bis dahin in der weißen herrschaftlichen Narration nicht stattgefunden hätten, sowohl im Kino als auch im Theater, erklärt er. Das seien nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, sondern alle, die bis dahin vom System ausgegrenzt worden seien.

Hark Bohm und Fatih Akin (r.) bei der Lola-Preisvergabe
Fatih Akin (r.) wurde 2018 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet Bild: Getty Images/A. Rentz

60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen leben heute rund drei Millionen Türkischstämmige als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft in Deutschland. Und etliche Kulturschaffende - vom mehrfach preisgekrönten Filmemacher Fatih Akın über den Schriftsteller Feridun Zaimoğlu bis hin zu der Autorin Fatma Aydemir -  sind längst ein unverzichtbarer Teil der deutschen Kulturlandschaft.