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Was machen Start-ups in einer Kirche?

Marie Sina
27. März 2021

In einer entweihten Kirche im Aachener Norden soll der Geist junger Gründender die Digitalisierung Deutschlands vorantreiben. Die erfolgreichsten von ihnen suchen ihr Glück bisher lieber im Ausland.

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Der Altar der Digital Church in Aachen ist jetzt eine Espresso-Bar. Über dem Tresen steht Elysee in stylischen roten Buchstaben geschrieben
Am Altar der ehemaligen St. Elisabeth Kirche wird jetzt Espresso gebrühtBild: digitalHUB Aachen e.V.

Der Altar der ehemaligen St. Elisabeth Kirche ist einer Espresso-Bar gewichen. Ein Seitenschiff wurde zum Idea-Room umgetauft. Im bunten Licht der Kirchenfenster steht ein Kicker. In der sogenannten Digital Church in Aachen treffen Welten aufeinander: Highspeed-Internet in alten Gemäuern, digitale Start-ups treffen auf deutsche Bedenkenträger. 

Seit 2017 mietet der Aachener Verein digital Hub die entweihte Kirche, die wegen Priestermangels und sinkenden Mitgliedszahlen unwirtschaftlich wurde. Das ehemalige Gotteshaus verwandelte der Verein in ein Digitalisierungszentrum - eines von mehreren, die das Land Nordrhein-Westfalen mitfinanziert. Der Verein unterstützt nun Start-ups in der Digital Church, um Deutschland zukunftstauglicher zu machen. Doch die Digitalisierung des Landes steht auf einem wackligen Fundament: Start-up Gründerinnen und -Gründer stolpern unter anderem über Kapitalmangel und Angst vor dem Scheitern. 

Digitalisierung in Deutschland beflügeln 

Deutschland hinkt im globalen Vergleich bei der Digitalisierung hinterher. "Die USA und China digitalisieren mit einer Geschwindigkeit eines Autos, das 100 Stundenkilometer fährt. Wir fahren jetzt vielleicht mit zehn Stundenkilometern hinterher," meint der Vorstandsvorsitzende des digitalHubs, Oliver Grün.

Drei Männer arbeiten an einem langen Tisch im Mittelschiff der Digital Church
Im Mittelschiff treffen Gründende auf etablierte UnternehmenBild: Marie Sina/DW

In einem Ranking der digitalen Wettbewerbsfähigkeit der in Lausanne (Schweiz) ansässigen Wirtschaftshochschule IMD hat Deutschland an Boden verloren. Laut der renommierten Rangliste fiel die Bundesrepublik 2020 unter 63 Ländern auf den 18. Platz. Vor fünf Jahren war es immerhin noch auf Platz 15. Doch seither geht es abwärts. 

Dabei könnten deutsche Start-ups im digitalen Bereich eigentlich eine große Rolle spielen, meint Grün, der auch Präsident des Bundesverbands IT-Mittelstand ist. "Wir haben hier in Deutschland und auch speziell in Aachen Menschen, die tiefe technologische Kenntnisse haben. Wir können durch unsere Ingenieursleistungen tolle Produkte erfinden." Aachen beheimatet mit der RWTH die größte Hochschule für technische Studiengänge in Deutschland.

Start-ups mit dem Mittelstand verkuppeln 

Stärke durch Networking: Darauf setzt digitalHub-Geschäftsführerin Iris Wilhelmi. Sie will Start-ups mit dem Mittelstand zusammenbringen: "Auf der einen Seite haben wir die, die digitalisieren können - die digitalen Start-ups. Auf der anderen Seite alle die, die digitalisieren wollen."

Die Digital Church in Aachen von außen
Die Digital Church will die Digitalisierung in Deutschland beflügelnBild: digitalHUB Aachen e.V.

An der langen Tafel im Mittelschiff treffen sich täglich etablierte Unternehmen und Start-upper, um eine mögliche Zusammenarbeit auszuloten. "Die Digital Church hat für uns eine entscheidende Rolle gespielt, weil unsere ersten Meetings mit Partnern hier stattgefunden haben", sagt Tim Host, CEO und Mitgründer des Aachener Start-ups EMSU, ein Entwickler von smarten Ladenregalen. In so einem Gotteshaus komme man doch ganz anders rüber als in einem kleinen Büro.

Die erste Partnerschaft, die hier vor dem Altar geschlossen wurde, war zwischen dem Smart-Mobility-Start-up MOQO und einem regionalen Autohändler. Die Mietwagen des Händlers können nun komplett übers Smartphone gebucht und aufgeschlossen werden.

Erfolgreichen Start-ups fehlt in Deutschland das Kapital 

Der Verein greift den Start-ups auch bei der Suche nach Kapital unter die Arme. Doch gerade bei der Finanzierung besonders erfolgreicher Jungunternehmen hakt es momentan noch. In frühen Finanzierungsphasen lässt sich zwar noch häufig Kapital durch Risikokapital-Fonds in Deutschland finden. "Doch Wachstumskapital in größerem Maße ist hier nicht vorhanden," sagt Grün. "Sobald Start-ups größere Finanzspritzen im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich brauchen, werden sie aufgekauft", meint Grün.   

Drei Gründer arbeiten an Computern und einer Schreibwand
Das Seitenschiff wurde zum Idea-Room umfunktioniertBild: Marie Sina/DW

Nach einem Report des Deutschen Börse Venture Networks, einer Tochter der Deutschen Börse AG, stammen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nur zwölf Prozent des Kapitals in späteren Finanzierungsrunden aus dem Inland. Fast die Hälfte der Finanzierung kommt in dieser Phase aus den USA und Kanada.  

"Dann machen die Start-ups den Exit nach Übersee", sagt Grün. Durch den Absprung in Länder wie die USA oder China verliert Deutschland viele wertvolle Start-ups, die durch Initiativen wie die Digital Church zuvor hier gewachsen sind.  

"Von den wertvollsten Unternehmen der Welt kommen 64 Prozent aus den USA, 31 Prozent aus Asien. Von den verbleibenden fünf haben wir in Europa lediglich drei Prozent," sagt David Hanf, Business Angel und Vorstandsmitglied des Bundesverbands Deutsche Start-ups, in einem früherem Interview mit der DW.

Ein Kicker steht unter einem Kirchenfenster
Unter den bunten Kirchenfenstern wird gekickertBild: Marie Sina/DW

Auf dem Beichtstuhl das Tabu des Scheiterns brechen

Kreative Ideen, Mut zum Risiko und ein mögliches Scheitern einkalkulieren - das alles gehört zum Gründen dazu. Doch genau diese Eigenschaften werden in Deutschland oft nicht gefördert. "Das Problem ist, dass man hier nicht die Chancen sieht, sondern die Bedenken trägt," meint Grün. Scheitern ist hier oft ein Tabuthema, sagt Start-upper Host: "Die meisten Start-up-Gründer sprechen gar nicht darüber, dass etwas schiefgelaufen ist."  

Um dieses Tabu zu brechen, gibt es in der Digital Church öffentliche Beichten, die Fuck-up- Stories: Gründende erzählen bei diesen virtuellen Abendveranstaltungen ihre Geschichten vom Scheitern. Ziel ist es, eine Fehlerkultur aufzubauen, in der Erfolg nicht an Perfektion, sondern an Erfahrungen und Ergebnissen gemessen wird. 

Neben der Kanzel steht ein Bürotisch.
Coding-Station unter der KanzelBild: Marie Sina/DW

Host hat bei so einem Fuck-Up Stories-Event auch auf dem Beichtstuhl gesessen. Seine erste Gründung hatte nicht funktioniert. Statt darüber zu schweigen, hat er einem großen Publikum von seinem Misserfolg erzählt. "Wenn man mitbekommt, dass jemand an einer bestimmten Hürde gescheitert ist, kann man die Wahrscheinlichkeit minimieren, selbst daran zu scheitern," sagt er.

Unter der hohen Decke der ehemaligen Kirche herrscht Dauergemurmel. An einem Bürotisch unter der Kanzel programmiert ein junger Mann konzentriert. Im Seitenschiff tüfteln drei Gründer an einer Formel. Von Verunsicherung ist hier nichts zu spüren - innerhalb der alten Mauern. Die wirkliche Herausforderung wartet draußen.