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Gesellschaft

Abtreibungsdebatte mobilisiert Jugendliche

Irene Caselli Buenos Aires - AR
8. August 2018

Argentiniens Senat steht vor einer historischen Abstimmung in Sachen Abtreibungen. Dass es in dem katholischen Land soweit kam, liegt vor allem am Einsatz jugendlicher Demonstranten. Von Irene Caselli, Buenos Aires.

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Abtreibung in Argentinien
Bild: DW/I. Caselli

Julieta Poo ist 15 Jahre, geht aufs Gymnasium und steht nun mit vielen anderen jungen Frauen vor dem Argentinischen Nationalkongress, die lauthals legale Abtreibungen in Krankenhäusern fordern. Die Schülerin lässt sich das Gesicht mit der Symbolfarbe Grün schminken. Außerdem trägt sie ein grünes Halstuch, auf dem steht: "Sexualkunde, um entscheiden zu können, Verhütungsmittel, um Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden, legale Abtreibung, um den Tod zu verhindern". Julieta Poo ist zu der Demo gekommen, weil sie unbedingt will, dass die Stimme ihrer Generation gehört wird - vor der historischen Abstimmung an diesem Mittwoch im Senat.

"In der Abtreibungsdebatte wurden wir Schüler verniedlicht mit dem Argument, dass 15-jährige Mädchen nichts von Abtreibung verstehen", sagt Poo. "Wir haben aber eine Meinung, und die ist genauso wichtig." Die Schülerin gehört zu der "Revolution der Töchter", wie es die Publizistin Luciana Peker nennt - einer Jugendbewegung, die sich für die Legalisierung der Abtreibung in dem südamerikanischen Land eingesetzt. Und sie zieht eine Parallele zu dem Comichelden "The Incredible Hulk", der grün anläuft und sehr wütend werden kann, wenn man ihn ärgert. "Die 'Hulks' von Argentinien haben keine übermäßigen Muskeln. Sie tragen Glitter, um die Unsichtbarkeit zu beenden, die der männliche Sexismus verursacht hat", schrieb Peker in der Tageszeitung "Pagina12".

Obwohl es auch Jugendorganisationen gibt, die gegen eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes sind, verläuft der Bruch an anderer Stelle in der gesellschaftlichen Debatte: zwischen Alt und Jung. Die Spaltung geht sogar quer durch prominente Politikerfamilien, wie der von Gabriela Michetti. Während die Vizepräsidentin sagte, sie wolle Abtreibungen auch in Fällen von Vergewaltigungen verbieten, plädiert Michettis Sohn, der Musiker Lautaro Cura, für das Gesetz zur Legalisierung.

Demonstrantinnen für Abtreibungsliberalisierung in Argentinien
Demonstrantinnen für Liberalisierung des Abtreibungsrechts: "Revolution der Töchter"Bild: DW/I. Caselli

Am 14. Juni hatte die argentinischen Abgeordneten des Zweikammerparlaments das Gesetz mit knapper Mehrheit verabschiedet, das eine Legalisierung der Abtreibung in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft erlaubt. Nach einer rund 22-stündigen Marathon-Sitzung stimmten 129 Parlamentarier dafür, 125 dagegen.

Während der gesamten Debatte hielten Demonstranten Mahnwachen vor dem Kongresspalast ab. Nach Angaben der Organisatoren sollen es bis zu einer Million gewesen sein, darunter viele junge Frauen. Zudem besetzten Schüler dutzende Gymnasien, um die Sache zu unterstützen. An diesem Mittwoch wird nun die zweite Parlamentskammer, der Senat, über das Gesetz debattieren und entscheiden. Die Abtreibungsbefürworter hoffen, dass dabei die Mobilisierung zu Gunsten der Liberalisierung noch größer ausfällt.

Hauptursache der Müttersterblichkeit

Schülerin Julieta Poo will auch an dieser Demonstration teilnehmen, weil es wichtig sei, seine Meinung kundzutun. Und inzwischen bekommt die 15-Jährige sogar Unterstützung von ihrer Mutter: "Meine Mutter ist gegen Abtreibungen. Aber sie hat begriffen, dass sie anderen Menschen nicht ihre Meinung aufzwingen kann."

Bislang können Schwangerschaften in Argentinien nur dann rechtmäßig abgebrochen werden, wenn eine Frau vergewaltigt wurde oder die Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist. Wenn eine Frau oder ein Mädchen aus anderen Gründen abtreiben möchte, bleiben nur illegale Wege mit entsprechenden Risiken.

Nach Schätzungen gibt es im Land jedes Jahr 500.000 illegale Abtreibungen. Einige Nichtregierungsorganisationen unterstützen Frauen, indem sie sichere Schwangerschaftsabbrüche ermöglichen. Nach Regierungsangaben sind Abtreibungen die Hauptursache für die Müttersterblichkeit in Argentinien. 2016 kamen dabei 43 Frauen ums Leben. Das sind etwa 17 Prozent aller registrierten Todesfälle aufgrund von Komplikationen bei Schwangerschaften.

Julieta Poo
Schülerin Poo: "Ohne heteronormative Vorurteile"Bild: DW/I. Caselli

Jüngstes Opfer ist die 22-jährige Liliana Herrera. Die Mutter von zwei kleinen Kindern starb am 4. August in der nordargentinischen Provinz Santiago del Estero bei einer illegalen Abtreibung - vier Tage vor der Senatsdebatte an diesem Mittwoch. Frauen, die trotz des Risikos, dabei ums Leben zu kommen, einen Schwangerschaftsabbruch in einer Hinterhofklinik durchführen lassen, laufen Gefahr, dafür angeklagt zu werden. Und wer wegen Komplikationen anschließend ins Krankenhaus kommt, muss damit rechnen, dort misshandelt oder als "Mörderin" beschimpft zu werden.

Wenn der argentinische Senat dem Gesetzentwurf zustimmt, hätte dies Signalwirkung in Lateinamerika. In dieser überwiegend katholischen Weltgegend sind Abtreibung ohne Einschränkungen nur in drei Ländern möglich: Kuba, Guyana und Uruguay. Eine Legalisierung in Argentinien wäre ein schwerer Rückschlag für die katholische Kirche, die Abtreibungen für unvereinbar mit ihren Wertevorstellungen hält. Einer der Kritiker ist der Papst. Franziskus, der selbst aus Argentinien stammt, hatte kurz nach der ersten Abstimmung im Abgeordnetenhaus im Juni Abtreibungen mit dem Eugenikprogramm der Nazis verglichen. Doch die Argentinier folgen nicht immer den Weisungen aus Rom: Sie waren 2010 die ersten, die in Lateinamerika die Ehe für alle einführten - trotz starker Widerstände aus der Kirche. Und auch Präsident Mauricio Macri - der selbst gegen eine Legalisierung ist - gab sein Okay, damit das Parlament sich überhaupt mit dem neuen Abtreibungsgesetz befassen konnte.

Jugend als Motor

Der Anstoß kam von einer starken feministischen Bewegung namens "Ni Una Menos" ("Nicht eine weniger"), die vor drei Jahren mit der Forderung antrat, Frauen per Gesetz besser vor Gewalt zu schützen. Feministinnen und andere Beobachterinnen sagen, dass der Motor der Abtreibungsdebatte die jünger Generation ist. "Beim Thema Abtreibung geht es um Ungleichheit, um den Wunsch nach Mutterschaft und Vergnügen. Damit werden alle Geschlechterrollen in Frage gestellt - etwas, das für die jüngeren Generationen sehr charakteristisch ist", sagt Victoria Freire vom "Observatorio de Géneros y Políticas Públicas", einer Denkfabrik zur Genderpolitik in Buenos Aires. "Diese Bewegung von der Straße war entscheidend und sie kann das Ergebnis beeinflussen."

Die Revolution der Mädchen

Ihre Generation sei besser informiert als frühere, sagt auch Schülerin Poo. "Manche Dinge sind einfach natürlicher für uns", so die 15-Jährige. "Ich hoffe, dass meine kleine Schwester ohne heteronormative Vorurteile aufwachsen kann." Auch Jurastudentin Laura Moses trägt das grüne Halstuch der Liberalisierungsbewegung: "Fakt ist: Es gibt Abtreibungen - aber eben heimlich", sagt die 23-Jährige. "Die Regierung muss sich der Realität stellen, und religiöse Überzeugungen dürfen politische Entscheidungen nicht verhindern." Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass 59 Prozent der Argentinier für das neue Gesetz sind. Allerdings gilt der Senat als konservativer als die Abgeordnetenkammer, die nur denkbar knapp die Liberalisierung beschlossen hatte.

Doch egal, welche Entscheidung jetzt gefällt wird: Die Diskussion über Abtreibungen lässt sich in Argentinien nicht unter den Teppich kehren: Betroffene berichten offen über ihre Erfahrungen, und in der Öffentlichkeit sieht man viele Frauen, die das grüne Halstuch der Bewegung tragen. "Auch wenn das Gesetz jetzt nicht angenommen wird, haben wir diesen Kulturkampf gewonnen", sagt Claudia Pineiro, eine Schriftstellerin, die sich für das Gesetz engagiert hat. "In der Gesellschaft haben wir Abtreibungen bereits legalisiert."