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Afrikas Jugend will weg

29. November 2010

Auf dem Gipfel zwischen der Afrikanischen und der Europäischen Union soll es um Armutsbekämpfung, Frieden, Sicherheit und Demokratie in Afrika gehen. Doch auch die Flüchtlingspolitik steht auf der Tagesordnung.

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Nigerianische Fraum mit Kind vor ihrem Zelt im Zeltlager der Flüchtlinge in Oujda (Foto: Schaeffer)
Illegale Flüchtlinge in MarokkoBild: DW

Aliyus kleines fensterloses Zimmer erzählt, was die großen Orientierungspunkte im Leben des 28-jährigen sind: Ein Gebetsteppich liegt in der Ecke, ein großes Foto seiner Verlobten hängt über der Kommode, direkt darunter ein Foto des marokkanischen Königs und seines Vaters. Aliyu hat Chemie studiert in seiner Heimat Guinea-Conakry - doch nach dem Studium fand er keinen Job. Deshalb ging er nach Marokko. Eigentlich möchte er wieder zurück nach Guinea-Conakry. Für ihn ein Land, das alles hat: Bodenschätze und Ressourcen. Doch Aliyu sieht für sich keine Perspektive in der Heimat - und versucht deshalb nach Europa zu kommen. Er ist einer von Zehntausenden afrikanischen Flüchtlingen, die in Marokko auf einer illegalen Überfahrt warten. Viele von ihnen sind, wie Aliyu, gut ausgebildet. Eigentlich genau die Leute, die in der Heimat gebraucht werden - trotzdem gibt es dort keine Jobs für sie.

Kritik an EU-Politik

Hände eines Flüchtlings aus Mali (Foto: Schaeffer)
Illegaler Flüchtling aus Mali, der anonym bleiben möchteBild: DW

Aliyu wünscht sich, dass Europa über klare Bedingungen und klare Politik den Druck auf die afrikanischen Staaten erhöht, damit nicht so viele ihr Land verlassen: "Marokko spielt den Gendarmen für Europa. Die EU sollte jedoch viel eher ihre Entwicklungspolitik mit den afrikanischen Staaten wirklich überdenken. Worum geht es den vielen tausend Menschen aus Mali oder Guinea die hier sind? Es geht ihnen um ein besseres Leben und um Arbeit. Deshalb muss die Zusammenarbeit mit den Ursprungsländern geändert werden."

Man findet die Flüchtlinge überall in Nordafrika: Auf den vielen Baustellen, als Haushaltshilfen, bei Gärtnerarbeiten, bei Handwerksbetrieben wie Schreinern oder in der Metallverarbeitung. Wer wie Aliyus Zimmergenosse Mahamadou als Elektriker arbeiten kann, der kann täglich etwas Geld verdienen. Ohne Versicherung, ohne Vorsorge, sieben Euro pro Tag etwa - bar auf die Hand. Genug, um es im Monat auf ungefähr 100 Euro zu bringen. Das reicht einigermaßen zum Leben in Marokko.

Bereits einmal hat Mahamadou versucht, mit einem Schlauchboot nach Europa zu kommen. Das Boot hat nicht einmal losgelegt: Die marokkanische Polizei fasste die Gruppe kurz bevor sie in das Boot stieg. Das hat an seinen Plänen jedoch nichts geändert: "Natürlich werde ich wieder ein Boot nehmen. Du scheiterst, wenn du untergehst und du scheiterst, wenn sie dich erwischen und zurückbringen. Dann bis du völlig gescheitert. Das ist vielleicht das Schlimmste: Wenn sie dich erwischen und zurück in die Wüste bringen. Das kann dir drei, vier Mal passieren. Und dann musst du Mut sammeln und wirst es wieder probieren", sagt er.

400 Kilometer zu Fuß

Gesciht eines illegalen Flüchtlings aus Nigeria (Foto: Schaeffer)
Illegaler Flüchtling aus NigeriaBild: DW

Jean ist genau das passiert – der Jurist aus Kamerun ist nach der Bootsfahrt das letzte Stück nach Spanien geschwommen. Doch die Küstenwache dort verhaftete ihn und schickte ihn - ohne jede Befragung oder Überprüfung seiner Identität - nach Marokko zurück.

"Sie haben mich an die marokkanisch-algerische Grenze zurück gebracht. Ich habe gelitten wie ein Tier, die Innenseite meiner Oberschenkel war offen, ich bin 400 Kilometer zu Fuß gegangen, um nach Rabat zurück zu kehren. Es gab Momente, da wäre ich lieber gestorben als weiterzumachen", erzählt Jean.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

500 Kilometer weiter östlich, in Richtung Algerien, liegt Oujda. Hierhin kommen wenige Touristen, dafür umso mehr Migranten. Wer den beschwerlichen Weg durch die Wüste hinter sich bringt, der wird in Algerien von den Fahrern der Jeeps kurz vor der algerisch-marokkanischen Grenze abgesetzt. Die Grenze ist etwa 15 Kilometer von Oujda entfernt. In Oujda ist es weit schwerer Arbeit zu finden, als in Rabat.

Zeltlager der Flüchtlinge in Oujda (Foto: Schaeffer)
Zeltlager der Flüchtlinge in OujdaBild: DW

Wer hier gelandet ist, und sein Geld auf der Reise bereits ausgegeben hat, der bleibt manchmal lange – wie Justin, 39 Jahre alt aus dem Delta State in Nigeria. Er ist Ingenieur und steckt schon seit drei Jahren fest. Er war schon zweimal in der Nähe von Melilla und sucht nach einem Kontakt, der ihn für kleines Geld nach Europa befördert. Noch hat er den nicht gefunden – doch sein Ziel heißt weiterhin: Europa. "Du musst etwas wagen, um etwas zu gewinnen. Auf dieser Reise spricht dir nur einer Mut zu - und das bist du selbst!"

Was passiert, wenn die Polizei zugreift, das wissen alle. Aliyou kennt das Vorgehen auch aus Rabat: "Die Polizei fällt über einen Stadtteil her. Sie filzt die Migranten, nimmt Ihnen ihr Geld, ihre Telefone ab. Schafft sie wie Tiere auf Lastwagen und setzt sie gewaltsam hinter der algerischen Grenze ab." Viele Freunde seien bereits in der Wüste gestorben, fügt er hinzu.

Abschotten statt integrieren

Zimmer eines afrikanischen Flüchtlings in Marokko (Foto: Schaeffer)
Zimmer eines afrikanischen Flüchtlings in MarokkoBild: DW

"Wir sind doch weder Affen noch Abfall" schimpft Aliyou. Und weiß doch, dass die marokkanische Politik immer noch nicht zugeben will, dass Marokko längst ein Land ist, in dem viele Afrikaner leben und arbeiten und dass es höchste Zeit wäre für eine Integrationspolitik.

Auch Mahamadou hat schon erlebt, wie die Polizei mit ihm und anderen Migranten umgeht: "Die Polizei hat uns hier aufgegriffen, uns mit Gewalt auf Lastwagen gepackt und in die Wüste gefahren. Viele versuchen, auf ihrem Rückweg auf einen Zug aufzuspringen, der dort entlang fährt. Ich habe einen Freund dabei verloren, der versucht hat, aufzuspringen. Manche haben ein Bein oder einen Arm verloren."

Jean, Aliyou und Mahamadou machen sich stark dafür, dass Marokko endlich anfängt eine Migrations- und Integrationspolitik in Gang zu setzen. Sie haben mit anderen zusammen den "Rat der afrikanischen Migranten" gegründet, der nicht von der Regierung anerkannt ist, aber ein gemeinsames Forum und eine gemeinsame Stimme sein will. Jean, Aliyou und Mahamadou wollen jedoch vor allem, dass sich die Situation in ihren Heimatländern ändert. Die afrikanischen Migranten in Marokko sind nicht die Ärmsten der Armen: Es sind die, die einen Beruf hatten, die aktiver Teil ihrer Gesellschaft waren. Diejenigen also, die in ihrer Heimat Entwicklung, Infrastruktur und effiziente Verwaltung aufbauen könnten. Oft scheitern sie zu Hause an Korruption und Vetternwirtschaft

Klartext reden - Entwicklungshilfe stärker an Bedingungen knüpfen und direkter mit den Gesellschaften arbeiten, anstatt sich auf die Regierungen verlassen - das würden Jean, Aliyou, Mahamadou und Justin den Europäern gerne mit auf die Agenda für den Gipfel von Tripolis schreiben.

Autorin: Ute Schaeffer (DW-Afrika)

Redaktion: Helle Jeppesen