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Politik

Akropolis trifft auf Flüchtlinge

Jannis Papadimitriou
6. Juni 2017

Die Documenta sorgt in Athen für kreative Impulse und überraschende Begegnungen. Eine Neuentdeckung für Griechen und ausländische Besucher und Grundlage für viel Diskussionsstoff im Land des Gastgebers.

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Documenta in Athen Altes Rathaus
Werbung für die Documenta am alten Rathaus in Athen Bild: DW/J. Papadimitriou

Ein Flüchtlingszelt aus Marmor hat die kanadische Künstlerin Rebecca Belmore auf dem Athener Philopapposhügel aufgestellt. Der Blick auf die Akropolis ist atemberaubend. Man stellt sich vor: Die Flüchtlinge wachen im Morgengrauen auf und der Parthenon liegt ihnen zu Füßen. Ein Sinnbild für die Begegnung Europas mit Neuankömmlingen, die vor Krieg und Not fliehen. Das tonnenschwere Marmorstück wirkt federleicht. "It's beautiful" sagen Aloise und Flen aus London, die den Hügel hochgelaufen sind, nur um dieses Kuriosum zu sehen. Adrett gekleidet wirkt das Künstlerpaar selbst wie ein Teil des Kunstwerks. Nach Griechenland wollten die Beiden schon immer. Dass die weltberühmte Documenta hier stattfindet, sei ein zusätzlicher Ansporn für den Flug nach Athen gewesen, sagt Aloise der DW.

Documenta in Athen Flüchtlingszelt
"It's beautiful" - Besucherpaar Aloise und Flen im Flüchtlingszelt an der AkropolisBild: DW/J. Papadimitriou

Alexis und Christel aus Frankreich bestaunen ebenfalls das Flüchtlingszelt aus Marmor. Sie meinen, der künstlerische Dialog mit der Akropolis sei eindeutig. "Auch in der Antike haben die Menschen Zuflucht vor dem Krieg gesucht. Die alten Athener mussten ihre Familien auf den Peloponnes bringen, als die Perser näher rückten und eine Schlacht unausweichlich wurde", weiß Alexis zu berichten. Viele Touristen sind unterwegs, aber kein einzelner Grieche schaut am Kunstwerk von Rebecca Belmore vorbei. Vielleicht liegt es am Wetter an diesem Tag: Bei 28 Grad im Schatten lässt die Leidenschaft für Kunst auch mal nach.

Die Kunstszene "rundum erneuern"  

Angenehme Temperaturen herrschen hingegen im "Nationalmuseum für Moderne Kunst" (EMST). Wohl die wichtigste Bühne der Documenta in Athen: Installationen mit Neonlicht, Aborigines-Kunst, politisch engagierte Werke aus der Zeit der griechischen Militärdiktatur (1967-1974) und vieles mehr warten auf die Besucher. Dazu noch die Hörkunst des russischen Futuristen Arseny Avraamov, der Glockengeläut und Straßenlärm in seine "Symphonie der Sirenen" einbaut.

Hämmern und Hupen hat Avraamov zur Kunst erklärt. Ersi Krouska geht durch die hellen Räume des Museums und schaut sich alles in Ruhe an. "Diese Werke können die Athener Kunstszene rundum erneuern", schwärmt die Architektin im Gespräch mit der DW. Krouska besucht immer wieder das neue Museum. Attraktiv findet sie auch die Aufführungen von Performance-Künstlern, die jeden Tag stattfinden.

Das EMST wurde 1997 gegründet und sollte vor fünf Jahren den Betrieb aufnehmen, doch der offizielle Termin wird aus Geldmangel ständig verschoben. Im eigenen Land kann das Museum seine ständige Sammlung deshalb nicht zeigen. Da hat die Documenta wohl Wunder bewirkt.

Documenta in Athen EMST
Im EMST ist eine ganze Halle dem sozialistischen Realismus aus Albanien gewidmetBild: DW/J. Papadimitriou

Für EMST-Leiterin Katerina Koskina ist es "großartig", dass die ständige Sammlung nun erstmals in Kassel präsentiert wird. Aus ihrer Sicht ist die Documenta in Athen ein Erfolg: "Bis Ende Mai haben 180.000 Menschen unser Museum besucht. Auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert man über die Frage, was moderne Kunst überhaupt bedeutet", sagt Koskina.

Das ist neu im Land der Antike. Dabei fragen sich viele Griechen allerdings, ob ihr krisengeplagtes Land nicht andere Prioritäten setzen soll. Und auch ob Kunst, die nicht verständlich wird, ihren Zweck erfüllt. Koskina will aufklären: "Viele glauben, dass Kunst nur eine Verschönerung darstellt. Aber das stimmt nicht immer. Kunst hat auch eine soziale Rolle: Sie bringt uns auf Gedanken und liefert Botschaften."

Documenta in Athen Rick Lowe
US-Künstler Rick Lowe spielt Domino mit Mitarbeitern und Besuchern im Rahmen seines "Victoria Square Project"Bild: DW/J. Papadimitriou

Eine "soziale Skulptur" am Viktoriaplatz  

Documenta in Athen Jorgos Lionto
"Die Menschen brauchen Arbeit", sagt Bäckermeister Jorgos LiontosBild: DW/J. Papadimitriou

In diesem Sinne gelang Rick Lowe ein echtes Kunstwerk: Im heruntergekommenen Viktoria-Viertel, einem von insgesamt 45 Ausstellungsorten der Documenta in Athen, bringt der US-Künstler Einheimische und Zuwanderer, Ältere und Jüngere, an einen Tisch zusammen. Zum Reden, Dominospielen, Pläneschmieden. Vorschriften gibt es kaum. Jeder kann kommen und gehen, wann immer er will. Lowe spricht von einer "sozialen Skulptur", inspiriert vom deutschen Künstler Joseph Beuys. Im Gespräch mit der DW erläutert er sein Konzept: "Wer schon länger an einem Ort lebt, ist im Vorteil. Wer gerade ankommt, wird oft klein gehalten, als wäre er nicht in der Lage zur Gemeinschaft beizutragen. Meine Idee ist es, diese soziale Hierarchie umzukrempeln. Ich glaube nämlich, dass alle etwas beitragen können", berichtet der Künstler aus Texas.

Dass Lowe sein "Victoria Square Project" ausgerechnet hier umsetzt, ist kein Zufall: 2015 machte der Ort weltweit Schlagzeilen, als Tausende Flüchtlinge am Viktoria-Platz unter freiem Himmel lagerten. Gelegentlich gab es Streit mit Anwohnern, die Politik war machtlos. Die Flüchtlinge sind derweil umgezogen. Kann Kunst die Nachbarschaft neu beleben? Nachfrage bei der Bäckerei um die Ecke, die eine Art Informationsbörse des Viertels ist.  

Bäckermeister Jorgos Liontos hat von den Documenta gehört und findet es auch gut, dass die Kunstschau in Athen stattfindet. Aber er hat noch kein Kunstwerk angeschaut. Moderne Kunst ist "…na ja, vielleicht doch etwas abgehoben für unsere Gegend hier", sagt Liontos. Einst war das Viktoria-Viertel eine noble Ecke, erinnert sich der Bäckermeister, der sein Geschäft in dritter Generation führt. Aber in den Achtzigern mussten viele Menschen gehen, als ein Erdbeben große Schäden in der Region anrichtete. Seitdem verkommt alles. Kunst sei natürlich eine gute Sache, sagt Liontos, aber "wichtig ist vor allem, dass die Menschen hier endlich wieder in Lohn und Brot kommen."