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Konflikte

Aktuell: Fluchtkorridore nicht sicher

28. März 2022

Wegen der Bedrohung durch russische Truppen könnten derzeit keine Fluchtkorridore zur Evakuierung von Zivilisten eingerichtet werden, heißt es aus Kiew. Viele Todesopfer werden aus Mariupol gemeldet. Ein Überblick.

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Frauen und ein Kleinkind warten darauf, aus Mariupol in Sicherheit gebracht zu werden
Frauen und ein Kleinkind warten darauf, aus der südostukrainischen Stadt Mariupol in Sicherheit gebracht zu werden Bild: AA/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Kiew verzichtet vorerst auf Einrichtung von Fluchtkorridoren 
  • Mindestens 5000 Todesopfer in Mariupol
  • EU setzt auf freiwillige Flüchtlingsverteilung
  • Selenskyj hält neutralen Status der Ukraine für möglich
  • Konfliktparteien wollen am Dienstag wieder verhandeln 
  • Britische Hilfe bei Verfolgung von Kriegsverbrechen

 

Die Ukraine hat nach eigenen Angaben - anders als in den Vortagen - vorerst keine Pläne zur Einrichtung von Fluchtkorridoren für Zivilisten in umkämpften Städten. Grund seien Geheimdienstwarnungen, dass es entlang der Routen zu Provokationen von russischer Seite kommen könne, sagt Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk.

Mindestens 5000 Todesopfer in Mariupol

Zuvor hatte noch der Bürgermeister von Mariupol die vollständige Evakuierung der ukrainischen Hafenstadt gefordert. Es drohe eine humanitäre Katastrophe, sagt Wadym Boitschenko. 160.000 Einwohner seien ohne Strom, Trinkwasser und Nahrungsmittel. Mindestens 5000 Menschen sind nach ukrainischen Angaben in der Hafenstadt sei Kriegsausbruch getötet worden. "Etwa 5000 Todesopfer wurden beerdigt", sagte die Verantwortliche für Flüchtlingskorridore, Tetjana Lomakina. Seit zehn Tagen würden allerdings wegen der anhaltenden russischen Bombardements keine Bestattungen mehr vorgenommen. Die Zahl der Todesopfer könne also noch deutlich höher sein.

Zerstörte Gebäude und Fahrzeuge in Mariupol
Zerstörung in Mariupol Bild: Alexander Ermochenko/REUTERS

Nach der Ankündigung Russlands, sich im Ukraine-Krieg künftig auf die "Befreiung des Donbass" konzentrieren zu wollen, befürchtet die Regierung in Kiew eine Zuspitzung der Lage in Mariupol und im Osten des Landes. "Dies bedeutet eine potenzielle oder starke Verschlechterung rund um Mariupol", meinte der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch in einer Videobotschaft auf Selenskyjs Telegram-Kanal. 

Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums verstärken russische Truppen offenbar ihre Versuche, die südostukrainische Stadt einzunehmen. In der Nähe der eingekesselten Hafenstadt erzielten sie Geländegewinne. Dort würden russische Truppen vor allem versuchen, den Hafen Mariupols einzunehmen. 

Ukrainische Städte unter schwerem Beschuss

Irpin wieder in ukrainischer Hand?

Die Stadt Irpin bei Kiew wird nach Angaben ihres Bürgermeisters wieder vollständig von ukrainischen Kräften kontrolliert. "Es gibt heute gute Nachrichten", erklärt Alexander Markuschyn in einem Video
auf Telegram. "Irpin ist befreit worden." Die Angaben können von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.

Anders sieht es wohl für Kiew aus. Der Sprecher des ukrainischen Verteidungsministeriums, Olexander Motusjanyk, sagte, der Kreml habe seine Pläne nicht aufgegeben, die Hauptstadt - wenn es nicht gelänge, sie einzunehmen - einzukesseln. "Derzeit sehen wir keine Bewegungen der feindlichen Truppen weg von Kiew."

Scholz: Wir werden uns an den Krieg nicht gewöhnen

Bundeskanzler Olaf Scholz hat Russland nochmals zum Truppenabzug aus der Ukraine aufgerufen. "Die Tötungen, die Zerstörung, das Leid in der Ukraine gehen unvermindert weiter - auf unserem Kontinent, keine zwei Flugstunden von Berlin entfernt", sagte Scholz in Berlin nach einem Gespräch mit der schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson. An diesen Kriegszustand "können und wollen wir uns nicht gewöhnen". Der Kanzler forderte Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf, "endlich einen Waffenstillstand zu vereinbaren".

EU für freiwillige Flüchtlingsumverteilung

Deutschland und die Europäische Union setzen bei der Verteilung der Millionen Ukraine-Flüchtlinge auf eine freiwillige Aufnahme. Von einer verpflichtenden Quote für die EU-Länder wollte Innenministerin Nancy Faeser beim Treffen mit ihren EU-Kollegen in Brüssel nicht mehr sprechen. Auch andere Staaten  beschworen die europäische Solidarität. Die Weiterfahrt der Flüchtlinge innerhalb der EU soll künftig besser gesteuert werden. Zudem soll ein gemeinsames Verfahren zur Registrierung der Schutzsuchenden aufgesetzt werden. 

Von den mehr als 44 Millionen Ukrainern haben seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor mehr als vier Wochen nach UN-Angaben bereits über 3,86 Millionen Menschen das Land verlassen. Mehr als zwei Millionen dieser Kriegsflüchtlinge sind in Polen angekommen, in Deutschland sind bisher gut 272.000 Neuankömmlinge registriert worden. Da es keine festen Grenzkontrollen gibt, dürfte die Zahl der nach Deutschland geflüchteten Menschen allerdings deutlich höher liegen. 

Selenskyj hält neutralen Status der Ukraine für möglich

Die Ukraine will die Frage einer Neutralität des Landes "gründlich" prüfen. Das versicherte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview unabhängiger russischer Medien. "Dieser Punkt der Verhandlungen ist für mich verständlich und er wird diskutiert", sagte der Staatschef. Eine Einigung mit Moskau sei allerdings nur möglich, wenn der Kreml seine Truppen abziehe. Außerdem sprach sich Selenskyj für einen vollständigen Austausch von Kriegsgefangenen aus.

Ukraine | Präsident Wolodymyr Selenskyj
Ein direktes Treffen zwischen Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin schließt der Kreml derzeit ausBild: Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa/picture alliance

Die russische Medienaufsicht Roskomnadzor hatte zuvor davor gewarnt, das Interview mit Selenskyj zu verbreiten. Sie drohte mit der Einleitung von "Ermittlungen und Maßnahmen". Das kritische Portal Meduza, das in Russland allerdings ohnehin blockiert ist, veröffentlichte das Interview dennoch.

Verhandlungen vielleicht wieder am Dienstag

Neue Friedensverhandlungen zwischen je einer Delegation aus der Ukraine und aus Russland könnten nach Angaben des Kremls am Dienstag in Istanbul beginnen. Laut türkischen Medien landete eine russische Maschine in Istanbul. Die Vertreter aus Kiew sollten in der Nacht eintreffen, hieß es weiter. Es wäre das zweite Treffen russischer und ukrainischer Gesandter in der Türkei. 

Eine Neutralität der Ukraine ist eine der Hauptforderungen Russlands. Der Kreml hatte unlängst Schweden oder Österreich als mögliches Vorbild genannt. Die Ukraine würde bei einem solchen Modell auf einen Beitritt zur NATO verzichten müssen, was Selenskyj aber bereits in Aussicht gestellt hat. Im Gegenzug verlangt er allerdings Sicherheitsgarantien anderer Staaten. 

Ukraine | Zerstörte Universität in Charkiw
Zerstörte Universität in CharkiwBild: AA/picture alliance

Der Krieg hat nach Angaben des ukrainischen Wirtschaftsministeriums bislang Schäden im Volumen von 564,9 Milliarden Dollar verursacht. Mit eingerechnet würden unter anderem Schäden an der Infrastruktur, Verluste bei der Wirtschaftsleistung und andere Faktoren, sagt Wirtschaftsministerin Julia Svyrydenko. 8000 Kilometer Straßen und zehn Millionen Quadratmeter Wohnfläche seien beschädigt oder zerstört.

Keine großen Brände mehr in Zone um Tschernobyl

In der Sperrzone um das 1986 havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl sind ukrainischen Angaben zufolge keine größeren Brände mehr festgestellt worden. Satellitenaufnahmen stellten derzeit keine derartigen Wärmequellen fest, teilte der Zivilschutz mit. Vergangene Woche war unter Verweis auf europäische Satellitendaten von mehreren großen Feuern in dem weitgehend von russischen Truppen kontrollierten Gebiet die Rede. Auslöser der Feuer sei Beschuss gewesen.

Die stellvertretende Regierungschefin Iryna Wereschtschuk hatte zuvor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dazu aufgefordert, um die Atomruine eine spezielle Schutzzone einzurichten. Nach Darstellung Wereschtschuks lagern russische Truppen in der Umgebung des Unglücksreaktors große Mengen an Munition.

Krieg in der Ukraine - Fliehen oder bleiben?

Biden fordert keinen "Regime Change"

US-Präsident Joe Biden hat persönlich dementiert, dass er bei seiner Rede zum Ukraine-Krieg in Warschau den Sturz des russischen Präsidenten Putin gefordert habe. Eine Reporterin fragte Biden am Sonntagabend (Ortszeit) im Anschluss an dessen Kirchenbesuch: "Herr Präsident, wollen Sie, dass Putin (von seinem Amt) entfernt wird? Herr Präsident, haben Sie einen Regimewechsel gefordert?" Biden antwortete darauf: "Nein." 

Bei seiner Ansprache am Samstagabend hatte Biden den Kremlchef einen "Diktator" genannt und mit den Worten geschlossen: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Das Weiße Haus betonte danach umgehend, das sei kein Aufruf zum Sturz Putins gewesen. Bidens Aussage hatte in Russland für Empörung gesorgt.

Polen Warschau Rede von US Präsident Joe Biden zum Ukraine Krieg
Joe Biden während seiner Rede in WarschauBild: Slawomir Kaminski/AGENCJA WYBORCZA via REUTERS

Botschafterin in Washington bittet um Hilfe 

Die ukrainische Botschafterin in den Vereinigten Staaten hat Russland wegen des Angriffskrieges auf ihr Land als "Terrorstaat" bezeichnet. "Es ist uns klar, dass Russland ein Terrorstaat ist, der von einem Kriegsverbrecher angeführt wird", sagte Oksana Markarowa dem US-Sender CNN. Der russische Präsident Putin müsse von internationalen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden. "Wladimir Putin und alle anderen Russen, die dafür verantwortlich sind, werden für diese Kriegsverbrechen ins Gefängnis kommen müssen." Die Botschafterin bat "alle zivilisierten Länder", die Ukrainer mit den notwendigen Mitteln auszustatten, um ihr Land und Europa zu verteidigen und um Putin zu stoppen.

Hilfskonvoi für die Ukraine

Deutsche Kliniken helfen Kriegsopfern

Deutschland hat nach Angaben von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mit der Behandlung schwerverletzter Kriegsopfer aus der Ukraine begonnen. "Das sind Leute, die eine sehr intensive Versorgung benötigen und die in intensivmedizinische Einrichtungen verteilt werden müssen", sagte Lauterbach "Bild TV". Er machte keine Angaben dazu, ob es sich nur um Zivilisten oder auch Soldaten handelt. 

Lauterbach zufolge wurden die Patienten zunächst aus der Ost- in die Westukraine geflogen. Vor dort gehe es dann weiter nach Polen und dann nach Deutschland. Hier würden die Verletzten und Verwundeten über das sogenannte Kleeblatt-System, das sich bereits bei Corona bewährt habe, auf Länder mit freien Kapazitäten verteilt. Es werde geholfen, wo dies möglich sei. "Deutschland liefert nicht nur Waffen."

Sorgen bereitet dem deutschen Gesundheitsminister der fehlende Impfschutz bei vielen Ukraine-Flüchtlingen. Es gehe nicht nur um die Corona-Impfung, sondern es gebe "riesige Impflücken" auch bei anderen Impfungen, betonte der SPD-Politiker.

Russisch- und Ukrainischstämmige in Gefahr

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs hat das Bundeskriminalamt (BKA) in Deutschland zuletzt Hunderte antirussische oder antiukrainische Straftaten erfasst. "Es gibt Straftaten sowohl gegen russischstämmige als auch gegen ukrainischstämmige Mitglieder unserer Gesellschaft", sagte BKA-Präsident Holger Münch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Wir zählen momentan gut 200 solcher Straftaten in der Woche - davon ist die Mehrzahl anti-russisch motiviert." Diese Straftaten reichten von Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Bedrohungen bis hin zu körperlichen Übergriffen.

Benutzen von russischem "Z"-Symbol strafbar

Mehrere Bundesländer haben strafrechtliche Konsequenzen beim öffentlichen Verwenden des russischen "Z"-Symbols angekündigt. Der lateinische Buchstabe wird von Befürwortern des Kriegs in der Ukraine genutzt. Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte dem "Tagesspiegel": "Wird der Kontext zum Krieg hergestellt mit der Verwendung des weißen Z's, wie es auf den russischen Militärfahrzeugen zu sehen ist, dann bedeutet das natürlich die Befürwortung des Angriffskrieges. Das wäre strafbar, da schreiten wir auch sofort ein."

Britische Hilfe bei Verfolgung von Kriegsverbrechen

Angesichts möglicher russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine soll ein britischer Experte die Justiz in Kiew beraten. Die britische Regierung hat dafür den ehemaligen Richter des Internationalen Strafgerichtshofs, Howard Morrison, ernannt. Morrison arbeitete dort unter anderem in dem Kriegsverbrecher-Prozess gegen den bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa zeigte sich erfreut über die Unterstützung. 

se/haz/bri/as/wa/bru (dpa, afp, rtr, ap, kna)