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"Eine Behinderung und 99 Fähigkeiten"

Aarni Kuoppamäki
26. September 2017

Für ihren Einsatz für Menschen mit Behinderung ist die äthiopische Juristin Yetnebersh Nigussie mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden. Im DW-Interview erklärt die 35-Jährige, was sie antreibt.

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Äthiopien Gewinnerin des alternativen Nobelpreises, Yetnebersh Nigussie
Bild: Studio Casagrande

DW: Sie haben im Alter von fünf Jahren ihr Augenlicht verloren. Ihre Familie sah darin einen Fluch, doch Sie selbst bezeichnen Ihr Erblinden heute als Chance. Warum?

Yetnebersh Nigussie: Viele Äthiopier denken, dass eine Behinderung ein Fluch ist wegen irgendeines Fehlers, den die Familie begangen hat. Ich sage, mein Erblinden war eine Chance, denn nicht viele Menschen aus meinem Dorf hatten die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Weil ich blind war, war ich ungeeignet für die Kinderehe, die in unserem Dorf üblich ist. Alle meine Freunde wurden im Alter von zehn, elf oder zwölf Jahren verheiratet. Ich war die einzige Ausnahme. Die Bildung hat mich befreit und so konnte ich werden, wer ich heute bin.

Mehr als eine Milliarde Menschen leben laut Weltgesundheitsorganisation mit einer Behinderung. Seit vielen Jahren setzen Sie sich für die Rechte dieser Menschen ein. Auf welche Errungenschaften sind Sie besonders stolz?

Der erste Meilenstein ist meine Bildung. Der zweite ist meine Entscheidung, Jura zu studieren, denn die Rechtswissenschaft galt damals in Äthiopien als Männerfach. Ich war eine der ersten drei Frauen im Land, die es gewagt haben, die juristische Fakultät zu besuchen. Die nächste große Errungenschaft war die Gründung eines Zentrums für Studierende mit Behinderung an der Universität Addis Abeba, denn damals fühlte sich niemand für unsere Belange verantwortlich. Heutzutage haben fast alle Universitäten in Äthiopien so ein Zentrum. Ich habe auch in Zusammenarbeit mit Landsleuten und einem sehr netten Amerikaner von der Internationalen Arbeitsorganisation das Äthiopische Zentrum für Behinderung und Entwicklung gegründet. Damit ist es uns gelungen, das Thema Behinderung im Entwicklungsdiskurs unterzubringen. Nicht zuletzt habe ich eine stabile Familie, bin mit einem netten Mann verheiratet und habe zwei wunderbare Töchter.

Auch international hat es Fortschritte gegeben: Die UN-Generalversammlung verabschiedete 2006 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Mehr als 170 Länder haben sie bislang ratifiziert, davon mehr als 40 afrikanische Staaten. Wie beurteilen Sie die Umsetzung dieser Rechte, vor allem in Afrika?

Es ist wichtig anzuerkennen, dass es sowohl international als auch regional bedeutende Fortschritte gegeben hat. Afrika als Kontinent hat sein eigenes Protokoll über die Rechte von Menschen mit Behinderung entwickelt. Es ist fast schon bereit für die Verabschiedung und Umsetzung durch die Mitglieder der Afrikanischen Union. Ich bin stolz, daran mitgearbeitet zu haben. Das Problem ist die Umsetzung der Gesetze. Die festgeschriebenen Rechte sind noch keine Realitäten geworden. Das liegt vor allem daran, dass die Leute nicht vor Gericht gehen. Es sind sich zwar grundsätzlich alle einig, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Bildung haben, aber es gibt keine gesetzlichen Mechanismen, um diejenigen, die dieses Recht verletzen, zur Verantwortung zu ziehen. Es geht jetzt darum, Menschen für die Sache zu sensibilisieren, damit sie ihre Rechte bei den Regierungen einfordern. Es gibt bereits vielversprechende Beispiele in Afrika, von denen wir lernen können, aber der Weg ist noch weit.

Für Männer mit Behinderung ist es schon schwierig, Arbeit zu finden und ein Einkommen zu erwirtschaften. Für Frauen mit Behinderung ist das Armutsrisiko noch höher. Sie persönlich haben Frauen in Äthiopien dabei unterstützt, das Betteln aufzugeben und produktiv zu leben. Was müsste geschehen, um die Lage von Frauen mit Behinderung in Afrika in der Breite zu verbessern?

Ich denke, wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Wenn wir über Menschen mit Behinderung reden, geht es meistens darum, was sie nicht können. Ich würde dazu raten, umgekehrt darauf zu schauen, was sie können. Wir Menschen mit Behinderung haben eine Behinderung und 99 Fähigkeiten. Ich denke, es ist falsch, sich auf die Behinderung zu fokussieren. Gerade Frauen mit Behinderung meistern in ihrem Leben zahlreiche Herausforderungen. Ihr Kampf gegen Widerstände ist kein 1500-Meter-Lauf und auch kein 10.000-Meter-Lauf - es ist ein lebenslanger Marathon. Darum sollten die Leute umdenken - und nicht auf die Bedürfnisse der Frauen schauen, sondern auf das, was sie einbringen können.

In den vergangenen Jahren haben Sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Der Right Livelihood Award - oft auch als alternativer Nobelpreis bezeichnet - ist wohl die größte. Was bedeutet sie Ihnen?

Ich habe mir nicht erträumt, dass ich mal so bekannt werden könnte. Ich weiß, ich habe hart gearbeitet. Aber nicht ich verdiene diesen Preis. Die Sache, für die ich mich einsetze, betrifft mehr als eine Milliarde Menschen - und sie verdient Anerkennung. Im Alter von 35 Jahren so einen Preis zu gewinnen, gibt einem die Möglichkeit, sich noch mehr einzubringen. Ich bin demütig, geehrt, glücklich und stolz. Aber ich spüre auch eine Verantwortung, noch mehr zu tun.

Sie haben sich ehrenamtlich in mehr als 20 Organisationen mit verschiedenen Zielen eingesetzt, nicht nur für die Rechte von Menschen mit Behinderung, sondern auch gegen AIDS oder für Bildung von Mädchen. Sie sind Mutter zweier kleiner Töchter. Was kommt als nächstes?

Ich glaube, dass all die Dinge, für die ich mich eingesetzt habe, einen gemeinsamen Ursprung haben - und zwar die Geisteshaltung. Es ist nicht meine Behinderung, wegen der ich als jemand beurteilt wurde, der etwas "nicht machen kann". Es liegt nicht daran, dass ich eine Frau bin, dass man mich als minderwertig gegenüber Männern angesehen hat. All das steckt im Bewusstsein der Menschen. Die einzige Arznei, die diese Welt von ihrer tief verwurzelten Ungleichheit heilen kann, ist Bildung. Je mehr Bildung die Menschen bekommen, desto mehr erkennen und feiern sie die Vielfalt. Und ich fühle mich verantwortlich dafür, dass die nächste Generation von uns eine gerechte und integrative Welt erbt.

Die Juristin Yetnebersh Nigussie ist Gründerin und Direktorin des Äthiopischen Zentrums für Behinderung und Entwicklung. Derzeit arbeitet sie für die internationale Organisation "Licht für die Welt", die sich für inklusive Entwicklung einsetzt. Am 26. September 2017 wurde sie mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet, der als alternativer Nobelpreis gilt.

Das Interview führte Aarni Kuoppamäki