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Andrea Camilleri: Der falsche Liebreiz der Vergeltung

Florian Görner25. November 2005

Der Autor kann gut erzählen. So gut, dass man den neuesten Band mit dem sizilianischen Commissario Montalbano - in Italien auch eine TV-Kultfigur - liest, ohne eigentlich zu merken, was daran so ungewöhnlich ist.

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Zunächst einmal fällt auf, dass das Buch sich in drei von einander unabhängige Geschichten unterteilt, deren erste sinnvoll "Montalbanos allererster Fall" betitelt ist. Für Camilleri-Neulinge eine gelungene Einführung in die Welt des sizilianischen Essen-Genießers. Und für Montalbano-Kenner wird dessen Vorleben vor seiner Hauptwirkungsstätte Vigàta in einem sizilianischen Bergdorf beleuchtet - wo er sich nun wirklich gar nicht wohl fühlt.

Buchcover: Andrea Camilleri - Der falsche Liebreiz der Vergeltung

Montalbano ist ein sinnlicher Mensch, wie Camilleris Bücher sinnlich sind, und seine Sinne sind aufs Meer eingestellt. Nachdem er in der Bergwelt förmlich zu vertrocknen drohte, ist er in der Küstenstadt nun ganz in seinem Element. Und läuft auch gleich zu Höchstform auf.

Der Fall: Ein etwas mystisch anmutendes junges Mädchen wartet stundenlang in einem Gerichtsgebäude, fällt dem Kommissar zunächst nur am Rande auf, entpuppt sich dann aber als Attentäterin. Als verhinderte allerdings. Und das hat mit der Besonderheit dieses Krimibandes zu tun.

Keine Toten - trotzdem klassisch

Viel darf von einer Kriminalgeschichte natürlich nicht verraten werden. Aber es ist nicht zu viel verraten, wenn man sagt, dass es einem womöglich gar nicht auffallen würde, was hier "nicht stimmt", wenn nicht der Meister selbst am Ende des Buches den geneigten Leser darauf aufmerksam machte, dass in sämtlichen drei Geschichte kein einziger Toter auftaucht.

In den Worten des 1925 geborenen Dozenten der römischen Accademia d'arte drammatica Silvio D'Amico hört sich das so an: "Das war eine bewusste Entscheidung (und auch ein bewusstes Risiko), auch wenn ich den Grund dafür selbst nicht recht erklären kann." Das Risiko erweist sich als gering: Camilleri beschreibt die Verwicklungen der sizilianischen Klein- und Großgangster so packend, dass man die Toten nicht vermisst.

Andrea Camilleri
Der italienische Schriftsteller Andrea CamilleriBild: dpa

In Stil und Aufbau handelt es sich trotz allem um einen "klassischen" Krimi, in dem der Leser mit dem Commissario falschen Spuren folgt, Indizien erst im Nachhinein richtig zu deuten vermag und sich freut, wenn schließlich die Bösen und Hochmütigen gestraft werden.

Kulinarisches und Psychologisches

Zusätzlich zur Spannung serviert Camilleri eine eindrückliche Beschreibung des sizilianischen Ambientes: Landschaft und Leute werden plastisch vor Augen geführt, und vor allem die genüsslichen Beschreibungen der verschiedensten Gelage des ess-süchtigen Kommissars lassen einem oft das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Lust wird geschürt auf unterschiedlichste Fischsorten und -zubereitungen, in Öl, gebraten, mit Zitrone, in allen (un)erdenklichen Kombinationen, dazu feinstes Gebackenes, Mandelköstlichkeiten und all das, was man nicht essen kann, während man gerade liest.

Zuweilen mögen einem die psychologischen Vorgänge etwas banal vorkommen, wenn der Commissario etwa im Gespräch mit einem übergebildeten Privatgelehrten dessen Fragen nicht beantworten kann, sich in seine Kindheit zurückversetzt fühlt und erschüttert denkt: "Jetzt kann ich einpacken. Der lässt mich durchfallen."

Aber psychologisch gesehen gibt's auch durchaus lustige Pointen, wenn etwa die Psychologin Montalbanos gespielte Coolness ganz beiläufig durchschaut und ihn ermutigt, das Kind in sich zu entdecken: "Sie können so lange mit dem Feuerwehrauto spielen. Man sieht es Ihnen doch an, dass Sie ganz wild drauf sind."


Andrea Camilleri
Der falsche Liebreiz der Vergeltung
Lübbe, 2005
ISBN 3-7857-1565-X
EUR 19,90