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Andirs Andris Nelsons im Interview

Rick Fulker10. Juni 2014

Kurz vor dem 150. Jahrestag des Geburtstags von Richard Strauss sprach die Deutsche Welle mit dem lettischen Stardirigenten Andris Nelsons über den Komponisten und seine Musik: Im Grunde genommen sind beide unerklärlich.

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Dirigent Andris Nelsons
Bild: picture alliance/ZB

DW: Maestro Nelsons, ist Richard Strauss ein sehr wichtiger Komponist für Sie?

Andris Nelsons: Strauss gehört zu meinen Lieblingen, zusammen mit Wagner, Brahms, Schostakowitsch… Ich komme vom Baltikum, da bin ich mit germanischen und slawischen Einflüssen aufgewachsen. Also mag ich Musik, die diese beiden Richtungen zusammenführt. Und Strauss ist einer jener Komponisten, die den Hörer zu Tränen rühren können.

Wir wissen, dass Geld Richard Strauss sehr interessierte, dass er während der Nazi-Zeit ein politischer Opportunist war, ein sehr bürgerliches Leben führte und sich selbst immer gerne in den Mittelpunkt stellte. Er schrieb sehr erhabene Musik… ein wenig wie Wagner, ein Mann fragwürdigen Charakters, der geradezu übersinnliche Musik schrieb.

Ich weiß nicht, wie es möglich sein soll, ein gefühlloser, grober oder einseitiger Mensch zu sein und etwas wie den "Lohengrin", "Tristan" oder "Parsifal" zu schreiben. Und wenn man dann Wagners Vorstellungen von Mitgefühl, von Liebe und einer Erfahrung, die nur nach dem Tod kommen kann, liest, dann geht es bei ihm um das Nirwana, das ewige Leben und derlei Themen: Das ist alles andere als Schwarz-Weiß!

Zurück zu Strauss: In seiner Musik stecken große Emotionen, gleichzeitig auch eine hoch entwickelte Struktur. Ist das nicht paradox?

All diese Meister - Wagner, Strauss - sind Genies: Sehr emotional und gleichzeitig sehr intellektuell. Sie beherrschen die Dramaturgie, die Technik, die Instrumentation und die musikalische Form. Aber sie sind gleichzeitig große Psychologen. In der Musik findet sich keine spontane, unkontrollierte Improvisation. Sie ist eher sehr bedacht, obwohl man natürlich zur Aufführung als Musiker große Spontanität braucht. Diese Komponisten wissen, wie sie uns ans Herz gehen. Schließlich ist Musik ja die höchste und abstrakteste Kunstform.

Man sagt, Sie arbeiten mit bildlichen Assoziationen. So hätten Sie zum Beispiel einmal gesagt, die Ouvertüre zu Rossinis "Der Barbier von Sevilla" vermittelt den emotionalen Zustand eines Mannes, der in einer Telefonzelle eingesperrt ist und nicht mehr rauskommt. Benutzen Sie eine solche bildhafte Sprache bei der Arbeit mit Orchestern? Und teilen Sie solche Bilder auch mit Ihrem Publikum?

Um die Atmosphäre ganz egal welcher Musik zu verstehen, ist eine unbelastete Fantasie und große Sensibilität Voraussetzung. Und dann müssen Sie in Proben und Konzerten Bilder generieren. Um als Dirigent die richtige Atmosphäre zur richtigen Zeit zu schaffen, muss ich schon mal auf einen bildlichen Ausdruck zurückgreifen. Nehmen wir zum Beispiel "Also sprach Zarathustra": Da haben wir den Einfluss des Philosophen Friedrich Nietzsche, der eine Geschichte erzählt. Ja, da geht es um die Natur, die Wissenschaft und den sogenannten Übermenschen, man sieht die Berge und das Meer. Da könnte ich sagen, Sie mögen sich einmal hundert Einsteins in einem Orchester vorstellen. Gleichzeitig finde ich aber auch, dass man sprachlich nicht zu bestimmt in den Bildern werden sollte. Wenn ich zu sehr auf dem einen oder anderen Vergleich beharre, könnte ich Menschen unzulässig beeinflussen, die für sich gerade eine ganz andere emotionale Reaktion erleben. Vielleicht liegt es daran, dass ich älter werde… viel abstrakter und gefühlsbezogen. Musik ist unerklärlich. Strauss gibt Teilen seiner Werke Titel, die die Neugier so manches Zuhörers befriedigen. Aber die Musik geht weit darüber hinaus. Sie ist das Nächste zu Gott. Oder zu einem mystischen, religiösen Akt.

Aber in seiner "Sinfonia domestica" ist Strauss sehr bodenständig: Die handelt von ihm selbst, seiner Frau und seinem Kind…

Naja, meiner Meinung nach ist die Familie ja das Wichtigste im Leben. Und ich finde es wunderbar, dass jemand eine Sinfonie darüber geschrieben hat. Das Werk ist beinahe philosophisch, wie es die Tiefen menschlicher Beziehungen auslotet. Dann sind da die Liebesszenen, die beschreiben, was zwischen einem Mann und seiner Frau zwischen 19 Uhr abends und 7 Uhr morgens passiert. Das ist so ziemlich die erotischste Musik, die jemals geschrieben wurde! Erotik und Wollust sind immer ein ganz wichtiges Element in der Musik von Strauss. "Der Rosenkavalier" beginnt mit einer 20-minütigen Liebesszene. Also, neben ziemlich freizügiger Sexualität haben wir gleichzeitig die philosophische Verherrlichung der Familie und der Werte, die damit einhergehen.

Was interessiert Sie sonst noch an Strauss?

Neben dieser ganzen Emotionalität sehe ich in seinem Werk eine perfekte Dramaturgie. Er weiß sehr genau, wie man Spannung aufbaut und führt. Einen emotionalen Zustand, manchmal verbunden mit leichter Ironie, sehr cleverem Sarkasmus, oder ganz irdischem Humor. Und das passt zu seiner Persönlichkeit: Strauss hatte definitiv ein gewaltiges Selbstwertgefühl. Doch er konnte auch über sich selbst lachen, sehr bescheiden sein und sich selbst herabwürdigen. Bei Strauss geht es immer um die Kombination von Dingen.

Der 35-jährige lettische Dirigent Andris Nelsons gehört zu den angesagten Dirigenten unserer Zeit. Seit 2008 leitete er das City of Birmingham-Orchester und wurde kürzlich zum designierten Chefdirigenten des Boston Symphony Orchestra ernannt. Bei den Bayreuther Festspielen gab er sein Debüt 2010 mit Richard Wagners "Lohengrin". In den nächsten Spielzeiten wird er bei den Berliner und Wiener Philharmonikern, beim Concertgebouw-Orchester Amsterdam, dem Leipziger Gewandhausorchester, dem Symphonie-Orchester des Bayrischen Rundfunks, dem Lucerne Festival Orchestra und dem Philharmonia Orchestra London ans Pult gehen. In Köln traf Rick Fulker von der DW den Dirigenten zum Interview, als er jetzt zwei Konzerte mit dem Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks (WDR) und Werken von Richard Strauss kurz vor dessen 150. Geburtstagsjubiläum leitete.