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Angela - Merkels "syrische Tochter"

8. Dezember 2021

"Wir schaffen das" - der Satz in der Flüchtlingskrise gehört zu Angela Merkels Vermächtnis. Eine syrische Familie hat ihr Kind nach der Kanzlerin benannt.

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Deutschland Angela Merkel Bundeskanzlerin Flüchtling Selfie
Selfie mit den Flüchtlingen: Bundeskanzlerin Angela Merkel am 10. September 2015 in BerlinBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Es ist Ende 2015, als die syrischen Flüchtlinge Widad und Mohammed in Deutschland einen Termin beim Frauenarzt haben. Mit dem Auto und am Ende zu Fuß war das Pärchen mit seinen drei Kindern vor dem Krieg aus der Heimat Latakia nach Deutschland geflohen, Widad war da schon schwanger. Nach dem Blick auf die Ultraschallbilder beglückwünschen die Ärzte die beiden: Eine Tochter ist unterwegs. Das syrische Paar muss nicht lange überlegen, wie ihr Kind heißen soll: wie die deutsche Kanzlerin, ihr Rettungsengel natürlich - Angela.

Sechs Jahre später stolziert ein kleines Mädchen mit langen dunklen Haaren in einem weinroten Kleid durch die Caritas-Beratungsstelle für Flüchtlinge in Gelsenkirchen und wird von allen Menschen freudestrahlend begrüßt. "Hi, Angie", "Hallo, Angie", "Guten Morgen, Angie" - Angela, die aber alle nur "Angie" nennen, lächelt glücklich und grüßt zurück. Ein Kind, das spürbar angekommen ist in Deutschland. Und einen Vornamen hat, der gleichzeitig Stolz und Bürde bedeutet.

"Alle lieben unsere Tochter Angela, auch die vielen älteren Frauen in unserer Nachbarschaft sind immer ganz glücklich, wenn sie Angela sehen", sagt Familienvater Mohammed, "und wir lieben Angela Merkel für das, was sie für uns getan hat."

Bewunderung für die Managerin der Flüchtlingskrise

Es ist ein wenig seltsam: Viele Deutsche fremdeln auch nach 16 Jahren noch mit ihrer jetzt scheidenden Kanzlerin, während eine syrische Familie, die jetzt im Ruhrpott lebt, ihr am liebsten ein Denkmal bauen würde. Angie sieht ihre berühmte Namensgeberin jeden Tag, vom Bildschirmschoner des Fernsehers lächelt ihr die Kanzlerin zu Hause zu.

Syrischer Flüchtling Mohammed mit seiner Tochter Angela
"Wir sind Angela Merkel unendlich dankbar für das, was sie für uns getan hat" - Mohammed mit seiner Tochter AngelaBild: Oliver Pieper/DW

"Während andere Länder die Türen zugemacht haben, hat Merkel uns und vor allem den Kindern hier ein neues Leben ermöglicht", sagt Mohammed, "alle unsere syrischen Freunde sind traurig, dass Merkel jetzt geht. Meine Mutter in Syrien sagt immer am Telefon zu mir: 'Sehr schade, was wird denn jetzt aus ihr?'"

Noch geht die kleine Angela in den Kindergarten, im August nächsten Jahres folgt sie ihren drei großen Geschwistern auf die Schule. Sie liebt es, Geschichten zu erzählen, zu malen, am liebsten Blumen, auch im Stadion von Schalke 04 war sie schon zweimal. Was Angie später einmal machen möchte? "Irgend so etwas wie Angela Merkel, also anderen Menschen helfen", sagt sie schüchtern.

Hat es Deutschland wirklich geschafft?

Als Angela Anfang 2016 in Gelsenkirchen auf die Welt kommt, ist Deutschland gerade dabei, von der weltweit beachteten Willkommenskultur zu einem Gefühl der Angst herüber zu schwenken. Ein kleines syrisches Mädchen mit dem Namen der Kanzlerin wird also mitten im deutschen Stimmungswandel geboren: An einem Tag, als in Köln - nach der Silvesternacht und Hunderten sexueller Übergriffe auf Frauen - eine Antragsflut für den kleinen Waffenschein gemeldet wird.

Deutschland: Fazit der Flüchtlingskrise

"Ja, wir haben das geschafft" - hat Angela Merkel neulich trotzdem gesagt, als sie eine Bilanz zur deutschen Migrationspolitik zog. Aber vielleicht trifft das Leben der kleinen Angela ganz gut im Kleinen, wie die Integration der Flüchtlinge von 2015 im Großen geklappt hat. Die Kinder sprechen fließend Deutsch, haben deutsche Freundinnen und Freunde, und gute Noten in der Schule.

Ihre Eltern dagegen tun sich immer noch schwer, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen: Mohammed will bald einen Kiosk eröffnen, seine Frau, die in Syrien Lehrerin war, möchte als Erzieherin arbeiten. Laut Statistiken des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, hat gerade einmal jeder zweite Flüchtling von 2015 einen Job.

Gelsenkirchen als Anziehungspunkt für Flüchtlinge

"Wenn ich Angies Familie eine Note für die Integration auf einer Skala von 1 bis 10 geben müsste, würde ich Ihnen eine 5 geben", sagt Marwan Mohamed. Er muss es wissen, 1995 kam Mohamed aus Syrien nach Deutschland - in ein Land, in dem es damals, wie er sagt, keine Beratungsstelle für Neuangekommene gab.

Marwan Mohamed von der Caritas in Gelsenkirchen
"Wenn man eine Person in Syrien ehren will, erhält das Kind den Vornamen", sagt Marwan MohamedBild: Oliver Pieper/DW

Jetzt ist Mohamed als Jurist bei der Flüchtlingsberatung der Caritas zuständig für alles, was mit dem  Aufenthaltsrecht zu tun hat. Die kleine Angela und ihre Familie haben eine Aufenthaltsgenehmigung, in drei Jahren wollen sie den deutschen Pass beantragen.

Mohamed kann sich über Arbeit nicht beklagen, in Gelsenkirchen leben etwa 10.000 Flüchtlinge, davon allein 7000 aus Syrien. Ausgerechnet in der Stadt also, die mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von knapp über 16.000 Euro die ärmste Stadt Deutschlands ist. "Viele Flüchtlinge sind hierher gezogen, weil sie in München oder Köln keine freien Wohnungen gefunden haben, es aber hier noch genug freien Wohnraum gibt."

Sprache Schlüssel zur Integration

Dies wiederum erschwere die Integration, kritisiert Mohamed. "Flüchtlinge in anderen Städten sind oftmals schneller integriert, weil sie gezwungen sind, Deutsch zu sprechen und mit den Einheimischen Kontakt aufzunehmen. Hier ist es für viele wie in ihrer Heimat, weil sie in den Geschäften Arabisch sprechen können. Und dann gibt es auf der anderen Seite viele Deutsche, die mit den Flüchtlingen nichts zu tun haben wollen."

"Platz für Toleranz" - Bank in der Caritas-Beratungsstelle in Gelsenkirchen
"Platz-für-Toleranz"-Bank in der Caritas-Beratungsstelle in GelsenkirchenBild: Oliver Pieper/DW

Marwan Mohamed und sein Team bei der Caritas lassen aber nicht locker. Als die Corona-Pandemie im vergangenen Jahr ausbricht und auch in Gelsenkirchen fieberhaft Masken gebraucht werden, produzieren die Flüchtlinge im Rekordtempo 7000 Stück. Die Männer besorgten den Stoff, die Frauen schnitten und nähten sie mittels einer Anleitung aus dem Internet, die Männer verteilten sie wiederum in den Altersheimen. Vor wenigen Monaten machte sich ein Trupp von syrischen Helfern auf Richtung Flutgebiete. In Teilen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hatte es die verheerendsten Überschwemmungen seit Jahrzehnten gegeben.

"Wir schaffen das" könnte somit auch das Motto von Mohamed sein. Der berühmte Satz Merkels wird in Gelsenkirchen nach dem Abschied der Kanzlerin jedenfalls weiterleben, auch bei den Flüchtlingen selbst - bei der Familie der kleinen Angela genauso wie bei den anderen, da ist sich der Jurist sicher. "Mir ist hier noch niemand begegnet, der schlecht über Angela Merkel geredet hat, alle Flüchtlinge respektieren sie. Sie hat den Kindern wie Angie eine neue Heimat gegeben."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur